Category Archives: Hartz IV

Wo bleibt die Fürsorgepflicht der ARGEn?

Am 9. Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht das “Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums” etabliert und dabei (Randziffer 137) darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber darauf hinzuwirken hat, dass dieses Grundrecht permanent gewahrt bleibt: “Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (…). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.”

Eines habe ich daraus von Anfang an geschlossen, nämlich dass Sanktionen nach Paragraph 31 SGB II damit hinfällig sind, da die Mittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach einer Absenkung logischerweise nicht mehr vollumfänglich zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums beitragen könnten. Klar!

Einen starken Hinweis darauf hatte das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden abgegeben (wir berichteten), das Verrechnungen von Überzahlungen durch Einbehalt bei der nächsten Auszahlung durch die ARGE unter den Vorbehalt der gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen stellte. Da man auch im Falle von “Sanktionen” (was immer die eigentlich rechtlich rechtfertigt) ein Anrecht auf die Leistungen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hat, müsste das Geld in voller Höhe ausbezahlt werden und Einbehalte nach Paragraph 31 SGB II zumindest unter dem Vorbehalt der gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen stehen.

Meines Wissens hat bislang aber noch niemand auf die zweite Konsequenz aus diesem Anspruch hingewiesen: Im Zuge der Einführung von Hartz IV war seinerzeit der Wegfall jener Fürsorgepflicht der Sozialbehörden nach dem Sozialhilfegesetz in den Fokus geraten, derzufolge sie selbstständig tätig zu werden hatten, wenn sie von der Hilfebedürftigkeit eines Menschen Kenntnis erlangt hatten. Letztlich war die Streichung dieser Regelung die Todesursache des jungen Mannes in Speyer. Mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 muss diese Fürsorgeverpflichtung wieder ins SGB II aufgenommen werden!!

Spektakuläres Urteil am Sozialgericht Wiesbaden

Das Sozialgericht Wiesbaden hat in einem spektakulären Urteil beschlossen, dass bei Überzahlungen der ARGE an Hartz-IV-Leistungsberechtigte (bei Vorschüssen, der Anrechnung überhöhter fiktiver Einkommen etc.) auch die gesetzlichen Pfändungsgrenzen gelten. Was die ARGEn bisher einfach mit der laufenden Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts verrechneten, fällt – zumindest bei den meisten Hartz-IV-Leistungsberechtigten – unter die Pfändungsgrenzen und darf daher künftig nicht mehr verrechnet werden, schon gar nicht ohne Einholung einer Erlaubnis!

Weitere Hintergründe bei Tacheles und dem Sozialticker.

Fehlurteil zur Barauszahlung von Hartz IV

Im lexisnexis-Beitrag Nr. 185034 vom 28.07.2010 berichtet Reinhild Gotzen: “SGB II-Empfänger haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Barauszahlung der Leistungen“. Es ist das SG Gießen, das sich mit diesem klaren Fehlurteil hervortut – auch wenn man sagen muss, dass viele andere Aspekte an dieser Story einfach nicht berücksichtigt wurden oder schlicht falsch sind.

Die Aussage etwa, dass der Leistungsempfänger den Anspruch auf kostenfreie Auszahlung verwirkt, wenn er eine andere Auszahlung als die vom Gesetzgeber im § 42 SGB II als Regelfall bestimmte Überweisung von Geldleistungen auf ein Konto des Leistungsempfängers beantragt, ist – im Falle der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im SGB II – offenkundig nicht haltbar. Hier gilt Ähnliches wie beim Wegfall der Bagatellklausel der Fahrtkosten, die bei Einladungen zur ARGE entstehen. Der Leistungsempfänger hat selbstverständlich ein Recht auf vollständige Auszahlung des bewilligten ALG-II-Betrages zur Sicherung seines Grundrechts auf Leistungen zum Lebensunterhalt mit soziokultureller Mindestteilhabe! Wenn das von der ARGE gewählte Postbarscheck-Verfahren mit Gebühren verbunden ist, ist dieser unabdingbare Grundsatz wohl kaum gewährleistet und darum ist es eben das falsche Verfahren!

Allerdings lässt sich das Problem auf verschiedene Weisen auflösen. Der einfachste Weg wäre, Banken die Erhebung von solchen Gebühren zu untersagen. Der zweiteinfachste Weg wäre, sofern der Leistungsempfänger auf der Barauszahlung besteht, dass er sich das Geld bar bei der ARGE abholt. Am allereinfachsten aber wäre der Hinweis an die Bank, dass sie das Girokonto kostenlos zur Verfügung stellen muss. Auf diese Weise kann das Konto weiterhin genutzt werden und der ARGE entstehen auch keine Verwaltungskomplikationen. “Das Jedermann-Konto wurde 1996 in Deutschland vom Zentralen Kreditausschuss der Banken (ZKA) als freiwillige Selbstverpflichtung der Banken definiert. Es handelt sich um ein Girokonto auf Guthabenbasis, bei dem keine Überziehung (umgangssprachlich: Guthabenkonto) zugelassen ist.” (Lemma der Wikipedia)

Völlig falsch ist natürlich der Hinweis des Sozialgerichts Gießen, dass Kontoführungsgebühren als Bedarf mit der Regelleistung abgedeckt seien. Schon wegen des Jedermann-Kontos besteht gar kein Grund, für Bankdienstleistungen einen eigenständigen Bedarf vorzusehen – und so ist es ja dann auch, wenn man sich die Regelsatzverteilung ansieht! Abgesehen davon muss endlich Schluss sein mit dem Irrsinn, wirklich alles, was man sich alltäglich leisten können muss, um Teil dieser Gesellschaft zu sein, auf den “mit Hartz IV abgedeckten Bedarf” abzustellen, der mit schlappen 359 Euro nun einmal nicht mehr ist als ein besseres Taschengeld! Taschengeld für erwachsene, eigenverantwortliche, oft zusätzlich betreuuende, mit einer Menschenwürde versehene Mitmenschen! Hartz-IV-Leistungsberechtigte sind nicht der soziale Schuhabtreter der Nation!

Wohnkostenpauschale, Bürgerarbeit, Sparpaket? NEIN!

Erläuterungen im Skript, daher gleich in medias res:

Liebe Leute!

Willkommen zum 2. Aufmarsch der 14. Jeden-Monat-Demo, nachdem wir uns vergangene Woche bereits den Bildungshungrigen des bundesweiten Bildungsstreiks in Mainz solidarisch angeschlossen hatten. Bildung für alle – und zwar umsonst!

Einen Außentermin haben wir vergangenen Samstag unter den Motti “Wir zahlen nicht für Eure Krise!” und “Das nennt Ihr gerecht? Gerecht geht anders!in Stuttgart wahrgenommen. Zusammen mit 20.000 demonstrierten wir gegen Sozialabbau.

Heute widmen wir uns wieder der gesellschaftlichen Brisanz der asozialen Erwerbslosenpolitik. Wohnkostenpauschale, Bürgerarbeit, Sparpaket.

Die Wohnkostenpauschale für Hartz-IV-Leistungsberechtigte bedeutet, dass alle Betroffenen (vermutlich regional angepasst) pauschale Beträge für Kosten der Unterkunft (KdU) erhalten. Nicht für ihre Kosten, also bedarfsgerecht, sondern alle über einen Kamm geschoren. Also nicht bedarfsgerecht und zwar – wie man annehmen muss – vollkommen bewusst und wahrscheinlich auch strategisch geschickt. Ich nehme an, dass der Betrag so bestimmt wird, dass die Mehrheit einen finanziellen Gewinn darin sieht, weil die Mehrheit der statistischen Ausreißer – schon aus Sparsamkeitsgründen in vergangenen Zeiten als Betroffene – eher nach unten in billigeren Wohnungen zu finden sind. Die Leute, deren Wohnungskosten den politisch bestimmten Betrag übersteigen, haben a) Pech gehabt, weil sie entweder Teile der Miete aus ihrem Regelsatz bezahlen oder umziehen müssen, wodurch b) die Ghettobildung vorangetrieben und die Kluft zwischen Reich und Arm immer deutlicher sichtbar gemacht wird.

Wir sind daher strikt gegen Wohkostenpauschalen!

Wenn sogenannte Liberale das Modell mit dem Argument “Freiheit” bzw. “Eigenverantwortung” gutheißen, so kann ich nur festhalten, dass solche “Liberale” von der Freiheit nichts, aber auch gar nichts verstanden haben! Schon die Arbeitslosigkeit an sich ist eine Einschränkung der Freiheit. Weiter stigmatisiert wird man beim Absturz in die sogenannte Langzeitarbeitslosigkeit, wobei man mit der Einengung auf den Horizont des Arbeitslosengeldes II  weiter ganz konkret an Freiheit verliert. Und dass “man” Freiheit gewönne, wenn man mit einer nicht kostendeckenden Wohnkostenpauschale aus seiner angestammten Wohnung ausziehen müsste, kann man doch niemandem erzählen!

Die Bürgerarbeit, soweit man davon weiß, ist ein untragbares Konzept, weil wie schon mit den Ein-Euro-Jobs – nur noch perfider – der Eindruck einer Arbeit vorgetäuscht wird. Die Rede ist von 900 Euro für 30 Stunden, die Brutto genannt werden, obwohl zum Netto keine Arbeitslosenversicherung abgezogen wird. Es wird also eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit vorgetäuscht, wo keine ist. Was sehr wohl abgezgen wird, sind die Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung, wodurch von den 900 Euro allerdings weniger übrig bleibt, als man mit dem ALG II allein hätte, ohne dass es  Möglichkeiten zum Aufstocken gäbe! Abgesehen davon geht es nicht um bedarfsorientierte, sinnstiftende Arbeit, sondern um einfache Tätigkeiten – also um Arbeitsersatz.

Allerdings muss man wohl nicht zu viele Worte darüber verlieren, da nur 33.000Plätze im Gespräch sind. Zur Erinnerung: Superminister Clement hatte 600.000 Ein-Euro-Jobs in Aussicht gestellt; aktuell sind es zwischen 300.000 und 400.000. Die 33.000 Stellen für Bürgerarbeit sind also offensichtlich nur ein Witz.

Wir sind aus den genannten Gründen strikt gegen Bürgerarbeit!

Damit zum Sparpaket der Bundesregierung, das von Vielen schon so behandelt wird, als wäre das alles schon beschlossen, obwohl die parlamentarische Hürde dem noch bevorsteht. Mal abgesehen davon, dass schon die politische Genehmigung des desaströsen Geschäftsgebahrens der Banken und Fonds irrsinnig war, dass es noch irrsinniger war, denen mit dem Argument der Systemrelevanz der Banken, die sich gegenseitig haufenweise wertlose Schuldscheine zugeschoben und damit virtuelle Schuldenberge aufgetürmt haben, unser reales Steuergeld hinterherzuwerfen, statt sie sterben zu lassen oder unter Enteignung zu verstaatlichen, ist dieses Sparpaket auch noch absolut asozial gestaltet. Nicht nur, dass die Reichen nicht herangezogen werden, man versucht auch noch, den Ärmsten der Armen noch mehr wegzunehmen – und das auch noch massiv!

  • Kürzung des ALG I von 67 auf 65 Prozent – trotz der Kinder!
  • Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Leistungsberechtigte!
  • Streichung des Rentenversicherungsbeitrags für Hartz-IV-Leistungsberechtigte!
  • Streichung des Armutsgewöhnungszuschlags!

Besonders plastisch stelle ich mir die Situation eines Menschen vor, der nach einem Jahr versicherungspflichtiger Assistententätigkeit an der Uni während des einen Jahres im ALG-I-Bezug ein Kind bekommt, dabei mit weniger ALG I als bislang auskommen muss und schließlich ohne Armutsgewöhnungszuschlag und obendrein auch noch ohne Elterngeld in Hartz IV reinrauscht – das sind doch mal Perspektiven für junge akademische Eltern und ihre Kinder!

Das Sparpaket ist komplett und inakzeptabel asozial. Wir weisen das Sparpaket in aller Deutlichkeit zurück und rufen zum massiven Widerstand auf!

Liebe Leute!

Lasst Euch den Boden der Zivilisation nicht unter Eruren Füßen wegreißen! Was in Deutschland in Zeiten der Barbarei passieren kann, wissen wir doch…

Seid wachsam!

Danke für Eure Aufmerksamkeit!

Manfred Bartl

Fehlurteil am LSG NRW

In seinem Urteil L 6 AS 297/10 B vom 23.04 2010 hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen geurteilt, dass eine Hartz-IV-Empfängerin im Zuge eines Antrags auf Erstausstattung einer Wohnung kein Recht auf die Übernahme der Kosten für die Anschaffung eines Personalcomputers (PC) samt Zubehör (Monitor, Tastatur, Maus, Lautsprecher, Drucker und Software sowie die Teilnahme an einem PC-Grundlehrgang) habe. Zitat aus der Pressemitteilung:

Hartz-IV-Empfänger könnten nicht verlangen, bei der Erstausstattung ihrer Wohnung wie die Mehrheit der Haushalte gestellt zu werden. Es komme nicht darauf an, in welchem Umfang PCs in Haushalten in Deutschland verbreitet, sondern ob sie für eine geordnete Haushaltsführung notwendig seien. Ein Haushalt lasse sich aber problemlos ohne einen PC führen. Mit Informationen könnten sich Hartz-IV-Empfänger auch aus Fernsehen und Radio versorgen.

Dass Richter solche Dreistigkeiten wie die, dass Hartz-IV-Empfänger schlechter gestellt werden dürften als die Mehrheit der Haushalte, straflos behaupten können, ist ein veritabler Skandal. Wie sich ein Haushalt ohne einen PC überhaupt führen ließe (von “geordnet” schweigen wir gleich ganz), müsste man mir vorführen. In meinem Haushalt gelang mir das zuletzt vor 1992!

Dass es beim PC nicht in erster Linie um Informationsbeschaffung und überhaupt nicht nur um bloßen Informationskonsum  geht, sollte sich langsam auch bei den realitätsfernsten Richtern herumgesprochen haben. Es geht beim PC um Selbstermächtigung in der Informationsverarbeitung, es geht um einwandfreie Bewerbungen und es geht um Kommunikation in beiden Richtungen!

Ich hoffe, das Bundessozialgericht kassiert dieses krasse Fehlurteil baldmöglichst!

Unser Redebeitrag zur Maikundgebung

Bei der Maikundgebung des DGB Rheinhessen-Nahe zum Tag der Arbeit auf dem Marktplatz in Mainz sprach Manfred Bartl von der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV. Hier das Manuskript der Rede:

Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Mainzerinnen und Mainzer!
HEY, ARBEITERKLASSE!

Mein Name ist Manfred Bartl und ich spreche auf der Mai-Kundgebung 2010 zu Euch im Namen der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV und als Mitorganisator der Mainzer Jeden-Monat-Demo am 3. Mittwoch jedes Monats.

Dem Deutschen Gewerkschaftsbund gebührt ein Dank für die Rückführung des 1. Mai als Tag der Arbeit ins Herz der Mainzer Öffentlichkeit! Ich wünsche Euch in diesem Sinne zahlreiche Gelegenheiten, über Arbeit, Gute Arbeit und Erwerbslosigkeit diskutieren zu können!

In diesem Spannungsfeld steht auch mein Thema:

RFID
oder auf Englisch Ar Eff Ei Die

Dieses Akronym RFID ist allen bekannt? Das sagt allen etwas?

Das Akronym RFID kommt aus dem Englischen und steht für „Radio-Frequency Identification“, auf Deutsch: „Identifizierung mithilfe von elektromagnetischen Wellen“. RFID ermöglicht die automatische Identifizierung und Lokalisierung von Gegenständen im elektromagnetischen Feld und gestattet damit die berührungslose Erfassung von Verkehrsdaten.

Ein RFID-System besteht aus einem Transponder-Chip, dem „RFID-Tag“, der sich am Gegenstand bzw. seiner Verpackung befindet, und einem Lesegerät. Dieses erzeugt ein elektromagnetisches Hochfrequenzfeld geringer Reichweite, mit dem der Transponder zunächst mit Energie versorgt wird und in dem anschließend die gespeicherten Daten übertragen werden. Die unerhörten Vorteile dieser Technik ergeben sich aus der Kombination der Kleinheit der RFID-Tags, die so klein wie ein Reiskorn sein können, der Leichtigkeit und Unauffälligkeit der Auslesung und dem geringen Preis der RFID-Tags.

Haupteinsatzgebiete für RFID sind die Supply Chain, Selbstzahlerkassen im Einzelhandel und allgemein das Identifikationswesen, z. B. mit dem ePass oder der entsprechend gechippten ecCard. Da es mir vor allem um die Arbeitsmarktauswirkungen von RFID geht, sind die beiden erstgenannten Bereiche die interessantesten. Rund um RFID sind auch andere Themenfelder berührt, zunächst der Datenschutz im Allgemeinen – hier vor allem der Arbeitnehmerdatenschutz – und darüber hinaus die Aussicht auf einen rein bargeldlosen Zahlungsverkehr im Besonderen, die de facto hinführt zum „Großen Bruder“, der Totalüberwachung; doch die sollen heute nicht zur Sprache kommen.

Bitte beachtet daneben auch, dass es mir im Wesentlichen nicht um diese Technik geht, sondern um das System und die Chance auf eine Neujustierung des Arbeitsmarktes, um den gesellschaftlichen Nutzen für uns Erwerbspersonen sowie um den Nutzwert, der dem Kapitalisten aus einer solchen oder ähnlichen Technik erwächst und der aufgrund der Profitbegierlichkeiten der Unternehmer (leider) noch immer den Motor solcher Entwicklungen darstellt.

Was tut sich rund um RFID?

Der ver.di Fachbereich Handel hat eine umfangreiche Broschüre „RFID Basisinformation – Was Betriebsräte über den Einsatz von Funkchips wissen sollten“ (PDF) herausgegeben. Darin geht es nicht allein um Wissen zum Wesen der Technik und um mögliche Anwendungen (Best Practice), es sind auch Handlungsanleitungen für Betriebsräte enthalten, allerdings ohne Orientierungshinweise für die Standortbestimmung des Betriebsrates! Der Betriebsrat verfügt in der Regel nur über eine eingeschränkte betriebliche Perspektive, z.B. die Arbeitslosigkeit der eigenen Belegschaft verhindern zu wollen.

Bibliotheken etwa nutzen RFID als Instrument zur schnellen Erfassung von zu entleihenden und zurückzugebenden Büchern, worin RFID gegenüber dem Vorgängersystem Barcode kaum einen Vorteil bietet. Zugleich ist das RFID-Tag aber auch ein Diebstahlschutz.

RFID soll nach den Vorstellungen von effizienzorientierten Unternehmern (und manchem Verbraucherschützer) die Lieferkette oder auf Neudeutsch die Supply Chain – vom Herkunftsort über die Transportwege bis ins Regal – überwachen. Warenein- und –ausgänge (selbst wenn die Produkte hintereinander gelagert und Etiketten verdeckt wären), Nachbestellungen aus den Läden, Lieferungen in die Märkte sowie Wareneingangsbuchungen laufen alle automatisch kontrolliert und gesteuert ab. Leicht verderbliche Waren können auf Überschreitung des Haltbarkeitsdatums kontrolliert und rechtzeitig aus dem Verkauf genommen werden. Zähl-, Such- und Sortierprozesse durch Arbeitskräfte entfallen. Die Logistikkette steht, wenn die Lagerkapazitäten optimiert, Lieferungsspitzen just-in-time abzufangen und logistisch bedingte Ausfälle minimiert und dementsprechend alle relevanten Informationen stets verfügbar sind.

Dem Einzelhandel steht laut ver.di eine zweite Selbstbedienungswelle bevor. Die Akzeptanz von Selbstzahlerkassen wird überall getestet. Bei Self-Checkout-Kassen fällt nur das Personal weg; das System beruht unverändert auf Barcodes und Scannerkasse. Eine gewaltige Rolle spielt gerade RFID aber im „METRO Future Store“ in Rheinberg. Dort werden „Technologien getestet, die das Einkaufen für Kunden einfacher und bequemer machen sollen“: „mit Selbstzahlerkasse, Info-Terminals, die Rezeptvorschläge liefern, intelligenten Waagen, die Äpfel von Birnen unterscheiden können, einem Einkaufberater als Computer am Einkaufswagen, der Produktinformationen und Preise anzeigt, elektronischen Werbedisplays und Preisschildern“.

Den Einkaufsabschluss muss man sich so vorstellen, dass man mit dem vollen Einkaufswagen einfach zur Tür hinausspaziert, dann macht es einmal „Pieps“ als Signal, dass die Preise aller Waren im Wagen erfasst wurden, und ein weiteres Mal macht es „Pieps“, wenn die Summe per RFID-gechippter ecCard erfolgreich vom Konto des Kunden abgebucht wurde. Keine Warteschlangen, kein Rumräumen. Mit den Augen eines unschuldigen Kindes betrachtet ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der heutigen Situation!

„Die Folgen der RFID-Technik für die Arbeitsplätze im Handel (…) werden unterschiedlich eingeschätzt. Personalabbau hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wird jedes einzelne Produkt getaggt und übernehmen die Kundinnen/Kunden das Kassieren selbst, indem sie einen Tunnelscanner passieren, so ist Kassenpersonal überflüssig.“ „Eine Aufsichtsperson bleibt, mehrere Kassierer/-innen gehen.“ „Mit den Automatisierungen gehen viele Arbeitsplätze verloren“, „selbst wenn die erzielten Rationalisierungseffekte teilweise dazu dienen, dort mehr Personal zu beschäftigen, wo es der Wertschöpfung und der Ankurbelung des Verkaufs dient.“ „Nur in den Geschäften, in denen die persönliche Bedienung und Beratung der Kunden noch wesentlicher Bestandteil der Verkaufsphilosophie ist, vermag RFID vorerst wenig zu verändern.“

Die Zitate decken einen ironischen Aspekt beim sich vor unseren Augen abspielenden Entwicklungsprozess auf: Man will menschliche MitarbeiterInnen durch RFID-Technologie einsparen, die das Einkaufen für Kunden einfacher und bequemer machen, z.B. intelligente Waagen bereitstellen, und Rezeptvorschläge liefern soll. Als ob menschliche MitarbeiterInnen Äpfel nicht von Birnen unterscheiden könnten… Als ob robotische Bedienung für mehr Bequemlichkeit sorgen könnte als die Beratung durch kompetentes (und auch intuitives) menschliches Personal…

Ich will niemandem Angst einjagen, aber

  • wenn man den Kapitalisten den Schritt zur Einführung von RFID allein überlässt,
  • wenn man berücksichtigt, dass die gesellschaftliche Spaltung in Arm und Reich so rasant zunimmt und die „Ankurbelung des Verkaufs“ mittels menschlichen Personals nur noch dort noch eine Rolle spielt, wo man sich eine „Verkaufsphilosophie“ leisten kann (bei der „Tafel“ wird es keinen RFID-Reader geben…),
  • und wenn man nur die Betriebsratsebene anstrengt, um die schlimmsten Auswirkungen abzumildern,

dann wird man mit – Hausnummern jetzt – 500 000 bis 1,5 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen rechnen müssen (wobei zusätzliche Arbeitsplätze rund um die RFID-Technik kaum ins Gewicht fallen dürften). Die Umstellung wird,  prescht einer erst einmal vor, obendrein sehr rasch durchgeführt werden, weil die Einsparpotenziale enorm hoch sind (Ich sage nur: „50 Prozent der Personalkosten des Lebensmittel-Einzelhandels fließen in die Arbeit an der Kasse“!), und dann wird sich auch REWE nicht davon abhalten lassen, obwohl gerade erst offenbar für die ganze REWE-Gruppe (also etwa auch für PENNY) neue Kassen für eine effizientere Bedienung durch menschliches Kassenpersonal angeschafft wurden. REWE gehört neben der METRO ohnehin zu den RFID-Vorreitern.Schwerpunkt der Diskussion um RFID sollte aber die Frage sein, inwiefern die vom DGB eingeforderte „Gute Arbeit“ an einer Kasse überhaupt umgesetzt werden kann, wenn diese Arbeit weder in Produktion, noch Dienstleistung (und damit meine ich Dienstleistung am Kunden), noch gesellschaftlich relevante Vermittlungsleistung einzuordnen ist, weil sie allein dem Kapitalisten dient, der im jetzigen System nur auf diese Weise sein Inventar zeitnah erfassen kann. Die dem Kunden entstehende Notwendigkeit des Aus- und Wiedereinräumens eines Einkaufswagens am Band und die Wartezeiten an der Kasse sind zusätzlich auftretende Kollateralschäden für die Kunden. Aus gesellschaftlicher wie volkswirtschaftlicher Sicht sind diese Kollateralschäden nicht hinzunehmen. Der „Frau an der Kasse“ im „ALDIteuerland“ steht mit RFID wohl der Gang in die Arbeitslosigkeit bevor.

Ein Kernsatz der Broschüre lautet: „Wenn aus Kostengründen [und da kann man wohl deutlich passender von Kapitalismusgründen sprechen] Billig-Konzepte Priorität haben und interessante Kombinationen von technischer und menschlicher Dienstleistung auf dem Prüfstand stehen, dann wird erfahrungsgemäß das Personal durch die Technik ersetzt.“

Einzel- und Großhandel sind ein bedeutender Wirtschaftssektor und bieten ca. 3,5 Millionen Menschen Arbeit. Die Beschäftigtenzahl geht laufend zurück. Im Einzelhandel ist das Arbeitszeitvolumen seit 2000 um 10 Prozent gesunken, was etwa 200.000 Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Auch die Beschäftigtenstruktur hat sich stark verändert: Vollzeit- und sozial abgesicherte Teilzeitarbeit ist gesunken. Dagegen ist der Bereich der geringfügigen Beschäftigung mit sogenannten
Minijobs anteilmäßig gestiegen. Von 2,5 Millionen Einzelhandelsbeschäftigten hat heute bereits jeder Dritte nur noch einen Minijob.

Ein Verkaufsladen ohne Personal ist allerdings nicht die Vision der Gewerkschaft und auch nicht der Beschäftigten und wohl auch nicht der meisten VerbraucherInnen.

Betriebsräte sind mit negativen Folgen des RFID-Einsatz konfrontiert wie Arbeitsverdichtung und verstärkter Kontrolle der Beschäftigten. Daher rät ver.di Betriebsräten in der RFID-Broschüre, „sich zu informieren, zu interessieren und zu qualifizieren, damit sie ihre Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte bei der Einführung neuer Technologien wirksam ausüben können.“ Nach § 111 Satz 3 Nr. 4 Betriebsverfassungsgesetz ist zu Änderungen der Betriebsanlagen und nach § 111 Satz 3 Nr. 5 zu neuen Arbeitsmethoden – mit aufschiebender Wirkung – die Zustimmung des Betriebsrates einzuholen.

Doch lasst uns als Gewerkschafter und als Arbeiterbewegung oder Arbeiterklasse oder als was immer zeitgemäß wäre und wunderbar am 1. Mai diskutiert werden könnte  bedenken, dass Rationalisierung nicht nur dem kapitalistischen Primat der Profitmaximierung geschuldet ist, sondern auch im Kern unserer Zivilisation angelegt ist: Notwendige Arbeit soll zugunsten der Beschäftigung mit den Wissenschaften, den Künsten und dem Sozialen zurückgedrängt um nicht zu sagen: beseitigt werden.
Wohin die Reise gehen sollte, sah schon Konfuzius: „Such dir eine Arbeit, die du gerne tust. Dann brauchst du keinen Tag in deinem Leben mehr zu schuften.“
So sagt auch Götz Werner: „Die Wirtschaft hat nicht die Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen. Im Gegenteil. Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, die Menschen von der Arbeit zu befreien.“
Oscar Wilde drückte es noch grundsätzlicher aus: „Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen.“

Wir von der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV sehen dementsprechend in der Arbeitslosigkeit, die allein von RFID oder einen ähnlichen Technik zusätzlich generiert wird, die Chance auf eine Neuaufstellung des Arbeitsmarktes. Schon heute wäre die offenkundigste und arbeitsorganisatorisch noch verhältnismäßig einfach durchzuführende Maßnahme zur Reduzierung einer Massenarbeitslosigkeit von derzeit 6 bis 8 Millionen Menschen eine Umverteilung des  Arbeitszeitvolumens durch eine 30-Stunden-Woche oder womöglich schon die 25-Stunden-Woche.

Wir nennen das Konzept „Arbeit fair teilen“ und haben bei attac Mainz die gleichnamige Arbeitsgemeinschaft gegründet, die am 2. Mittwoch jedes Monats im DGB-Haus zusammentrifft. Dort wollen wir theoretisch noch weiter vorpreschen, andere, auch unter die Idee von „Guter Arbeit“ fallende Aspekte einarbeiten und der Möglichkeit einer 5-Stunden-Woche nachgehen.

Dass Solidarität ähnlich wie die Wirtschaft mit ihren beiden Ebenen Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft zwei Sichtweisen haben kann, die unter Umständen einander gegenüberstehen, haben wir Mainzer gerade erst im Zusammenhang mit dem Kohlekraftwerk erlebt. Die Industrie-Betriebsräte solidarisierten die MitarbeiterInnen von KMW AG, Stadtwerke Mainz AG und MVG GmbH (und anderen) untereinander und reihten sich mit ihrer Forderung nach dem Bau eines Kohlekraftwerks (und der Sicherung ihrer und der Schaffung neuer regionaler Industriearbeitsplätze zur Sicherung der regionalen Wertschöpfung) (und pikanterweise mit von den Unternehmen finanzierten Transparenten) nahtlos in die Reihen der betrieblich Argumentierenden, u. a. der (städtischen) Unternehmer ein.  Sich mit dem Klassenfeind Schulter an Schulter wiederzufinden, sollte hingegen zu denken geben – das war sogar der Lokalredaktion der „Allgemeinen Zeitung“ in einem Kommentar zu dem Geschehen aufgefallen!

Nach innen mag das ein schönes Zusammengehörigkeitsgefühl ergeben haben, aber die Beschäftigten in Mainz – ich erwähnte die Arbeiterklasse und die Schwierigkeiten, diese heute eindeutig zu definieren – fühlten sich, gelinde gesagt, veräppelt, dass einige von ihnen sich gegen die Allgemeinheit stellten, die das Kohlekraftwerk aus nachvollziehbaren und guten Gründen ablehnt – zumal alternative Energien den Studien zufolge mehr und vor allem zukunftsträchtigere Arbeitsplätze generiert hätte. Ich sprach es in einer Stadtratssitzung an: Wenn Mainz mit dem zeitlichen Spielraum und der Investitionsbereitschaft, die auch am Kohlekraftwerk erkennbar geworden ist, ein Energiekonzept auf Basis von dezentralen Blockheizkraftwerken und regenerativen Energien hinbekommen hätte, dann wäre Mainz Weltmarktführer geworden!Warum soll man Solidarität aufbringen, bevor sie im Sinne des Gesamtzusammenhangs nötig ist? Solange wir uns vom Kapitalismus beherrschen lassen, dessen unmögliche Auswirkungen sich dieser Tage wieder mächtig bemerkbar machen, hat niemand ein (Besitz-)Recht auf „seinen“ Arbeitsplatz, so wie wir Langzeitarbeitslosen ganz offensichtlich kein Recht auf „unseren“ Arbeitsplatz geltend machen dürfen.

Die herbeigesehnte Solidarität der Arbeiterklasse sollte vielmehr in dem Moment aufgebracht werden, in dem Grenzen überschritten wurden, etwa wenn Arbeitsplätze aufgrund von kapitalismusinhärenten Prozessen weggefallen sind und wenn sich die Interessen der Arbeitenden jenseits der Grenzen zur Deckung bringen lassen, hier etwa im Sinne regionaler Wertschöpfung mit hohem (nachhaltigem, menschenwürdigen, existenzsichernden) Arbeitseinsatz.

Dasselbe gilt für die MitarbeiterInnen der Job-Center und ARGEN, soweit die zuletzt in ver.di PUBLIK veröffentlichten Leserbriefe repräsentativ sind (und davon gehe ich zwanglos aus, nachdem ich schon so oft mit deren „gesetzestreuen“ Vorgehen konfrontiert wurde). Darin hatte jemand gemeint, dass MitarbeiterInnen der Job-Center „genauso Opfer wie die Arbeitssuchenden“ seien. Sein Kollege meinte offenbar allen Ernstes – und gegen jeden Solidaritätsgedanken: „Ist es gegenüber denen, die mit Jobs im Niedriglohnbereich versuchen ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht eine Frage der Gerechtigkeit, dass die sanktioniert werden, welche sich einer Zusammenarbeit verweigern?“

Wer nicht die geringste Anstrengung unternimmt nachzuvollziehen, dass Sanktionen – gerade nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 – menschenunwürdig sind, sollte vielleicht mal den Versuch einer Typisierung Adolf Eichmanns aus der Feder des großen Humanisten Erich Fromm nachlesen und registrieren, dass unsere Gewerkschaften unverändert anti-faschistische Organisationen sind! Wieder der erste Kollege verlangte „von unserer Gewerkschaft, dass sie (…) uns nicht zu Tätern macht wie in dem Artikel des Mitgliedermagazins. So ist das weder unser Magazin noch unsere Gewerkschaft.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, oder?!

Ich habe sicher nichts gegen die KollegInnen in den Job-Centern und ARGEn; ich selbst habe mich hier in Mainz schließlich schon einmal im vollen Bewusstsein dessen, was mich erwarten würde, als Fall-Manager beworben. Mir ist klar, dass sie grundsätzlich getrieben sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und mir ist auch klar, wozu ihr Arbeitgeber sie antreibt bzw. anzutreiben versucht. Solange aber die MitarbeiterInnen der Job-Center diesem Antrieb nachgeben, bei diesem Treiben gar mitmachen, statt sich aus Gewissensgründen zu weigern, menschenunwürdige Sanktionierungen auszusprechen, solange sie nicht selbst aufgrund dessen Disziplinarmaßnahmen oder Kündigungen zu erwarten haben, solange sie also Täter sind und nicht Opfer, so lange werden sie von mir und von uns keine Solidarität erwarten können.

Arbeitszeitverkürzung jetzt, dann ist Vollbeschäftigung möglich!

Wem die programmatische Ausrichtung bei der attac AG Arbeit fair teilen am 2. Mittwoch jedes Monats zu konkret ist, kann sich ja erst einmal beim NachDenkSeiten-Gesprächskreis Mainz am 2. Donnerstag jedes Monats beteiligen und auf Graswurzelebene mitdiskutieren!

Die Jeden-Monat-Demo findet diesen Monat am 19. Mai wie gewohnt um 12 Uhr statt. Sammelpunkt ist der Münsterplatz im Schatten des ver.di-Hauses.

Manfred Bartl
Sprecher der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV
www.hartz4-muss-weg.de

Aufruf zur 12. Jeden-Monat-Demo

Am 21. April demonstrieren wir gegen die geplante Verfassungsänderung, mit der die schwarz-gelbe Bundesregierung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den ARGEn aushebeln will, gegen Ein-Euro-Jobs und Sanktionen, zwei grundsätzlich verfehlte SGB-II-Konzepte, die obendrein viel zu oft missbraucht werden bzw. schlicht verfassungswidrig sind, gegen die dürftig als “bevorzugte Vermittlung von Alleinerziehenden” getarnte Verschärfung und gegen die neue Hetzkampagne von Guido Westerwelle!

Zugleich wollen wir für den 1. Mai mobilisieren; der Tag der Arbeit findet nach zwei Jahren Abstinenz von der Öffentlichkeit wieder mitten in Mainz auf dem Marktplatz statt! Heraus zum 1. Mai! Gibt es eine bessere Möglichkeit, um über Arbeit, gute Arbeit, Arbeitszeitverkürzung sowie Arbeiterklasse und Gewerkschaft zu diskutieren?!

Die Jeden-Monat-Demo startet wie üblich um 12 Uhr auf dem Münsterplatz bei ver.di; die Abschlusskundgebung erwarten wir für 12:30 Uhr auf dem Gutenbergplatz vor dem Staatstheater.

Papierner Standpunkt

In der aktuellen Hartz-IV-Debatte hat sich Hans-Jürgen Papier, Vorsitzender des Senats am Bundesverfassungsgericht, der auch das Urteil vom 9. Februar 2010 verkündet hatte, in einem Interview mit der WELT am Sonntag (aus Anlass seines formal letzten Arbeitstages) zu Wort gemeldet. Auch die Mainzer “Allgemeine Zeitung” berichtet darüber. Seine Äußerungen sind jedoch von seinem eigenen Urteil nicht gedeckt!

Im Interview antwortet Papier auf die Frage, ob “eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger verfassungsgemäß wäre”:

“Juristisch handelt es sich genau genommen nicht um ‘Pflichten’, sondern um ‘Obliegenheiten’ zur Erlangung einer Leistung. Und die sind im geltenden Recht durchaus schon vorgesehen. Wer eine zumutbare Arbeit ohne triftige Gründe ablehnt, muss mit einer Leistungskürzung rechnen. Sozialleistungen des Staates sind prinzipiell subsidiärer Natur, sie sollen nur dann gezahlt werden, wenn jemand in einer Notlage ist, aus der er mit eigener Kraft nicht herauskommt.”

Möglicherweise im Versuch, der Frage geschickt auszuweichen (wie er vielen Fragen ausweichend begegnet), verhaspelt sich Papier, vermengt den über das SGB II hinausgehenden “Vorschlag” von  Roland Koch und Guido Westerwelle (Letzterer explizit mit seinem “Schneeschippen”) mit Ansichten über das SGB II selbst und heraus kommt eine Lüge. Zunächst muss ich eines ganz klar festhalten: Eine Arbeitspflicht speziell für Leistungsberechtigte nach Hartz IV ist nach Artikel 12 Grundgesetz klipp und klar verfassungswidrig! Eine solche Arbeitspflicht vorzuschlagen, stellt die Vorschlagenden ins gesellschaftliche Abseits der Verfassungswidrigkeit. Die genannte “Obliegenheit zur Erlangung einer Leistung” ergibt sich weder aus dem SGB II noch aus dem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Gemeint ist hiermit vielmehr die “Annahme jeder zumutbaren Arbeit” gemäß dem “Fordern”-Prinzip des SGB II zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit (das natürlich ebenfalls eine nach Artikel 12 Grundgesetz festzustellende Verfassungswidrigkeit darstellt, deren Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht allerdings noch aussteht). Diese Forderung steht jedoch mit der Gewährleistung der Sicherung des Lebensunterhalts durch das ALG II in keinerlei Zusammenhang, wie das Bundesverfassungsgericht jüngst klarmachte, als es die Auszahlung des ALG II direkt (und allein) mit der Wahrung der Menschenwürde verknüpfte. Dem Usus, dass beide Bestandteile des SGB II etwa bei der Verhängung von Sanktionen wegen der Verweigerung einer “zumutbaren” Arbeit vermengt wurden, hat das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil endgültig einen Riegel vorgeschoben: Das Bundesverfassungsgericht hat Sanktionen abgeschafft!

Weiterhin behauptete Papier im WELT-Interview folgendes:

“Der Gesetzgeber hat nicht nur bezüglich der Höhe der Leistung einen Spielraum, sondern auch bezüglich der Art. Es ist ihm überlassen, seiner Verpflichtung zur Gewährleistung des existenzsichernden Minimums durch Geld, Sachleistungen oder einer Kombination nachzukommen. Was da zweckmäßig ist, muss die Politik entscheiden.”

Wenngleich diese Äußerungen weitgehend korrekt sind, ist doch der Maßstab falsch benannt: Nicht die Zweckmäßigkeit entscheidet, sondern die Menschenwürde! So sind Sachleistungen wie die erwähnten Schulbücher oder Taschenrechner allenfalls so zu gewähren, dass die Menschenwürde davon unbeeinträchtigt bleibt, also vor allem nicht vor aller Augen in der Schulklasse! Die Aussage hingegen, dass die kaputte Waschmaschine ein “einmaliger Sonderbedarf” sei, der “von der Regelleistung abgedeckt” werde und “kein Härtefall” sei, ist zynisch und wird von seinem eigenen Urteil nicht gedeckt. Die Regelleistung deckt definitionsgemäß das alltägliche Existenzminimum ab und niemand wird behaupten wollen, dass Waschmaschinen jeden Monat kaputtgehen! Umgekehrt ist ein “Ansparen” für den Ersatz einer kaputten Waschmaschine menschenwürdigerweise unmöglich, da der Gesetzgeber – wie schon im Gesetzgebungsprozess des gültigen Sozialgesetzbuches II – allzu leicht in die Versuchung geraten wird, das Ansparen zwar für viele diverse “Sonderbedarfe” vorzusehen, aber keine Lösung für den Fall vorzugeben, dass mehrere der “Sonderbedarfe” zur gleichen Zeit oder überhaupt zur Unzeit anfallen.

Wolfgang Lieb bemerkte in den NachDenkSeiten: “Es ist unglaublich, dass ein scheidender Präsident des Gerichts nachträglich Interpretationen des Urteils liefert, die sich so aus dem Urteil selbst gewiss nicht ableiten lassen.

Die hier wiedergegebenen Aussagen lassen mich an der aktuellen Geistesverfassung von Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier zweifeln: Er versteht sein eigenes Urteil nicht! Die Regelleistung nach Hartz IV etwa hat er doch expressis verbis an die Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) angeknüpft. Damit erledigt sich jeder Gedanke an eine Obliegenheit ganz zwanglos. Das ALG II ist die Leistung der Gesellschaft an Menschen, die von der Gesellschaft aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen werden. Es sind nicht die Leistungsberchtigten, die eine Obliegenheit gegenüber der Gesellschaft haben – die Gesellschaft hat vielmehr den Langzeitarbeitslosen gegenüber die verdammte Pflicht, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Es handelt sich dabei keineswegs nur um eine Obliegenheit, da sich Erwerbspersonen – zumindest in diesem hofentlich bald überwundenen Kapitalismus – noch immer über ihre Erwerbsarbeit als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft definieren!

Auch hat sein eigenes “Hartz-IV-Urteil” vom 9. Februar dafür gesorgt, dass Leistungskürzungen als verfassungswidrig eingestuft wurden. Das steht zwar nicht explizit im Urteil. Da aber der Regelsatz als allerunterste, von der Menschenwürde abhängige Grenze eingezogen wurde, wörtlich: “Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.” (Randziffer 136) und: “Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.” (Randziffer 137), sind Leistungskürzungen ausgeschlossen, da die Leistung dann hinter das Existenzminimum zurückfallen und automatisch gegen die Menschenwürde verstoßen würde.

Das Bundessozialgericht hat am 18. Februar darüber hinaus geurteilt, dass über Sanktionen “konkret, verständlich, richtig und vollständig” belehrt werden müsse – was die ARGE vor unüberwindliche Probleme stellt, da das Sozialgesetzbuch II für Sanktionen KEINERLEI Zweck vorsieht, man darüber also auch niemals vollständig belehren kann.

Sanktionen sind daher verfassungswidrig und gesetzwidrig und sollten nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz behandelt werden; andere Abhilfe hat das Bundesverfassungsgerichtsurteil wiederum wörtlich ausgeschlossen.

(Die vier letzten Absätze stellen die Leserkommentare dar, die ich versuchte, bei den beiden AZ-Artikeln unterzubringen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie noch veröffentlicht werden; die Wahrscheinlichkeit ist jedoch eher gering…)

San Hartzvier

1. Ich fordere das Ende von Hartz IV,
Es schickt die Menschen draußen vor die Tür.
Weil es nur Unrecht und nur Armut bringt,
Und weil es jedermann zur Arbeit zwingt.

2. Was nach dem Grundgesetz verboten ist,
Es sei denn, dass du eingekerkert bist.
Man fragt nicht mehr danach, das sagt genug.
Hartz IV gleicht einem offenen Vollzug.

3. Die Strafen dienen nur der Disziplin,
Der Staat will dich zur Fügsamkeit erziehn.
Er treibt sein Spiel, solang bis nichts mehr geht,
Und setzt am Ende dich auf Nulldiät.

4. Die Pisa-Studie bringt es an den Tag
Wieviel man an Talent verschleudern mag.
Gewinne steigen, Löhne bleiben tief,
Ein-Euro-Jobber gibts zum Nulltarif.

5. Bedenkt doch das Schmarotzer-Argument,
Wer nichts schafft, bekommt auch keinen Cent.
Im Altersheim seid ihr dann selbst bedroht,
Ihr könnt nicht mehr, drum gibts den Gandentod.

6. Hinweg mit der Agenda Zwanzigzehn!
Am besten wärs, man würd’ sie nicht mehr sehn.
Die Hartz-Gesetze sind der letzte Stuss,
Beseitigt sie und macht mit ihnen Schluss!

Melodie: “San Quentin” von Johnny Cash
Die Akkord-Begleitung besteht aus den üblichen dreien mit zwei Subdominanten in der zweiten und dritten Zeile.

Der Verfasser ist der Redaktion bekannt.

Auch Hartz4-Plattform sieht Sanktionsparagraphen gekippt

Wie wir meint auch die Wiesbadener Hartz4-Plattform, dass schon mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Sanktionsparagraph des SGB II gekippt wurde (PDF). Als “Lackmus-Test” sah man in Wiesbaden das sich auf dieses Urteil beziehende Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.02.2010, von dem man sich denn auch bestätigt sah (PDF): “Ab sofort muss niemand mehr Leistungskürzungen im Rahmen des Paragraph 31 SGB II hinnehmen.” Die strengen Anforderungen an den Inhalt der Rechtsfolgenbelehrung, die dem individuellen Einzelfall angepasst und “konkret, verständlich, richtig und vollständig” sein müssten, seien nach dem Urteil der Bundessozialrichter vor allem deshalb geboten, weil es sich bei der Herabsetzung der Grundsicherungsleistungen, wie aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 hervorgehe, um einen schwerwiegenden Eingriff handele.

Ein Satz aus der Presseerklärung des Bundessozialgerichts hat für die Wiesbadender Hartz4-Plattform herausragende Bedeutung: “Da der Absenkungsbescheid schon wegen der unzulänglichen Rechtsfolgenbelehrung aufzuheben war, war nicht darüber zu entscheiden, ob die im Bescheid angeordnete völlige Streichung der Regelleistung für einen Zeitraum von drei Monaten zulässig war.” Dass sie nicht zu prüfen gehabt hätten, ob die Sanktion verfassungswidrig sei, wäre “ein an Deutlichkeit nicht zu überbietender Wink mit dem Zaunpfahl an alle Verwaltungen und Sozialgerichte”. Mir erscheint das eher wie der feige Rückzieher, eine Frage des allgemeinen Interesses endgültig zu klären, bevor auch diese wieder am Bundesverfassungsgericht hängenbleibt. Warum traut man sich nur nicht, etwas so Offenkundiges auszusprechen? Zumal man damit zum Helden der breiten Massen werden würde?!