In der aktuellen Hartz-IV-Debatte hat sich Hans-Jürgen Papier, Vorsitzender des Senats am Bundesverfassungsgericht, der auch das Urteil vom 9. Februar 2010 verkündet hatte, in einem Interview mit der WELT am Sonntag (aus Anlass seines formal letzten Arbeitstages) zu Wort gemeldet. Auch die Mainzer “Allgemeine Zeitung” berichtet darüber. Seine Äußerungen sind jedoch von seinem eigenen Urteil nicht gedeckt!
Im Interview antwortet Papier auf die Frage, ob “eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger verfassungsgemäß wäre”:
“Juristisch handelt es sich genau genommen nicht um ‘Pflichten’, sondern um ‘Obliegenheiten’ zur Erlangung einer Leistung. Und die sind im geltenden Recht durchaus schon vorgesehen. Wer eine zumutbare Arbeit ohne triftige Gründe ablehnt, muss mit einer Leistungskürzung rechnen. Sozialleistungen des Staates sind prinzipiell subsidiärer Natur, sie sollen nur dann gezahlt werden, wenn jemand in einer Notlage ist, aus der er mit eigener Kraft nicht herauskommt.”
Möglicherweise im Versuch, der Frage geschickt auszuweichen (wie er vielen Fragen ausweichend begegnet), verhaspelt sich Papier, vermengt den über das SGB II hinausgehenden “Vorschlag” von Roland Koch und Guido Westerwelle (Letzterer explizit mit seinem “Schneeschippen”) mit Ansichten über das SGB II selbst und heraus kommt eine Lüge. Zunächst muss ich eines ganz klar festhalten: Eine Arbeitspflicht speziell für Leistungsberechtigte nach Hartz IV ist nach Artikel 12 Grundgesetz klipp und klar verfassungswidrig! Eine solche Arbeitspflicht vorzuschlagen, stellt die Vorschlagenden ins gesellschaftliche Abseits der Verfassungswidrigkeit. Die genannte “Obliegenheit zur Erlangung einer Leistung” ergibt sich weder aus dem SGB II noch aus dem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Gemeint ist hiermit vielmehr die “Annahme jeder zumutbaren Arbeit” gemäß dem “Fordern”-Prinzip des SGB II zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit (das natürlich ebenfalls eine nach Artikel 12 Grundgesetz festzustellende Verfassungswidrigkeit darstellt, deren Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht allerdings noch aussteht). Diese Forderung steht jedoch mit der Gewährleistung der Sicherung des Lebensunterhalts durch das ALG II in keinerlei Zusammenhang, wie das Bundesverfassungsgericht jüngst klarmachte, als es die Auszahlung des ALG II direkt (und allein) mit der Wahrung der Menschenwürde verknüpfte. Dem Usus, dass beide Bestandteile des SGB II etwa bei der Verhängung von Sanktionen wegen der Verweigerung einer “zumutbaren” Arbeit vermengt wurden, hat das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil endgültig einen Riegel vorgeschoben: Das Bundesverfassungsgericht hat Sanktionen abgeschafft!
Weiterhin behauptete Papier im WELT-Interview folgendes:
“Der Gesetzgeber hat nicht nur bezüglich der Höhe der Leistung einen Spielraum, sondern auch bezüglich der Art. Es ist ihm überlassen, seiner Verpflichtung zur Gewährleistung des existenzsichernden Minimums durch Geld, Sachleistungen oder einer Kombination nachzukommen. Was da zweckmäßig ist, muss die Politik entscheiden.”
Wenngleich diese Äußerungen weitgehend korrekt sind, ist doch der Maßstab falsch benannt: Nicht die Zweckmäßigkeit entscheidet, sondern die Menschenwürde! So sind Sachleistungen wie die erwähnten Schulbücher oder Taschenrechner allenfalls so zu gewähren, dass die Menschenwürde davon unbeeinträchtigt bleibt, also vor allem nicht vor aller Augen in der Schulklasse! Die Aussage hingegen, dass die kaputte Waschmaschine ein “einmaliger Sonderbedarf” sei, der “von der Regelleistung abgedeckt” werde und “kein Härtefall” sei, ist zynisch und wird von seinem eigenen Urteil nicht gedeckt. Die Regelleistung deckt definitionsgemäß das alltägliche Existenzminimum ab und niemand wird behaupten wollen, dass Waschmaschinen jeden Monat kaputtgehen! Umgekehrt ist ein “Ansparen” für den Ersatz einer kaputten Waschmaschine menschenwürdigerweise unmöglich, da der Gesetzgeber – wie schon im Gesetzgebungsprozess des gültigen Sozialgesetzbuches II – allzu leicht in die Versuchung geraten wird, das Ansparen zwar für viele diverse “Sonderbedarfe” vorzusehen, aber keine Lösung für den Fall vorzugeben, dass mehrere der “Sonderbedarfe” zur gleichen Zeit oder überhaupt zur Unzeit anfallen.
Wolfgang Lieb bemerkte in den NachDenkSeiten: “Es ist unglaublich, dass ein scheidender Präsident des Gerichts nachträglich Interpretationen des Urteils liefert, die sich so aus dem Urteil selbst gewiss nicht ableiten lassen.”
Die hier wiedergegebenen Aussagen lassen mich an der aktuellen Geistesverfassung von Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier zweifeln: Er versteht sein eigenes Urteil nicht! Die Regelleistung nach Hartz IV etwa hat er doch expressis verbis an die Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) angeknüpft. Damit erledigt sich jeder Gedanke an eine Obliegenheit ganz zwanglos. Das ALG II ist die Leistung der Gesellschaft an Menschen, die von der Gesellschaft aus dem Arbeitsleben ausgeschlossen werden. Es sind nicht die Leistungsberchtigten, die eine Obliegenheit gegenüber der Gesellschaft haben – die Gesellschaft hat vielmehr den Langzeitarbeitslosen gegenüber die verdammte Pflicht, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Es handelt sich dabei keineswegs nur um eine Obliegenheit, da sich Erwerbspersonen – zumindest in diesem hofentlich bald überwundenen Kapitalismus – noch immer über ihre Erwerbsarbeit als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft definieren!
Auch hat sein eigenes “Hartz-IV-Urteil” vom 9. Februar dafür gesorgt, dass Leistungskürzungen als verfassungswidrig eingestuft wurden. Das steht zwar nicht explizit im Urteil. Da aber der Regelsatz als allerunterste, von der Menschenwürde abhängige Grenze eingezogen wurde, wörtlich: “Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.” (Randziffer 136) und: “Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.” (Randziffer 137), sind Leistungskürzungen ausgeschlossen, da die Leistung dann hinter das Existenzminimum zurückfallen und automatisch gegen die Menschenwürde verstoßen würde.
Das Bundessozialgericht hat am 18. Februar darüber hinaus geurteilt, dass über Sanktionen “konkret, verständlich, richtig und vollständig” belehrt werden müsse – was die ARGE vor unüberwindliche Probleme stellt, da das Sozialgesetzbuch II für Sanktionen KEINERLEI Zweck vorsieht, man darüber also auch niemals vollständig belehren kann.
Sanktionen sind daher verfassungswidrig und gesetzwidrig und sollten nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz behandelt werden; andere Abhilfe hat das Bundesverfassungsgerichtsurteil wiederum wörtlich ausgeschlossen.
(Die vier letzten Absätze stellen die Leserkommentare dar, die ich versuchte, bei den beiden AZ-Artikeln unterzubringen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie noch veröffentlicht werden; die Wahrscheinlichkeit ist jedoch eher gering…)