Das Bundesverfassungsericht hat in seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010 das Existenzminimum, das in Paragraph 1 SGB II noch (etwas mickrig) als “Sicherungs des Lebensunterhalts” formuliert ist, direkt auf Artikel 1 des Grundgesetzes bezogen und es mit Artikel 20 Grundgesetz verknüpft (Randziffer 133):
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (…). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind (…). Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.
Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet: “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Eine “unantastbare” Würde ist nicht nur grundsätzlich, sondern auch zeitlich unbeschränkt unanstastbar. Zusammen mit der Formulierung “Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt” aus Randziffer 137 hat dies zur Folge, dass Sanktionen nach Paragraph 31 SGB II in Zukunft unzulässig sind, weil eine abgesenkte Leistung, die in ihrem gesetzlich festgelegten Umfang der “Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums” dienen muss, auf die “jeder individuelle Grundrechtsträger” einen “unmittelbar verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch” hat, diesen Anspruch nicht mehr erfüllen könnte, insoweit dieser so definiert ist, dass er “sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind, erstreckt”!
Einzig möglich ist dem Gesetzgeber theoretisch eine Einschränkung der Erfüllung des Leistungsanspruchs in Geldform, wie Randziffer 138 bemerkt: “Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen.” Dass dies praktisch kaum durchsetzbar sein dürfte, lässt sich in zweierlei Hinsicht konkretisieren:
a) Randziffer 138 hält dem Gesetzgeber allerdings das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG vor Augen, das den Gesetzgeber anhalte, “die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht (…) zu erfassen”, die Grundsicherungsleistungen in Gutscheinform aufgrund ihrer erniedrigenden Begleiterscheinungen praktisch ausschließt und unter Rückbezug auf die dem Gewährleistungsanspruch nun zugrunde gelegte Menschenwürde auch tatsächlich für obsolet erklärt.
Dass die soziale Wirklichkeit sich “in einer technisierten Informationsgesellschaft” auch in der Mitwelt noch einmal anders als früher darstelle, ist ein weiterer Hinweis auf diesen Umstand, denn wenn man etwa an der Kasse von LIDL im Fokus der Überwachungskameras steht, möchte man sich nicht nur von den Mitmenschen, sondern natürlich auch nicht vor der Marktleitung oder vor noch höheren Leitungsebenen als Gutscheineinlöser beobachtet fühlen.
b) Darüber hinaus bezieht sich dieser Hinweis auf die grundsätzliche Bestimmung des allgemeingültigen Leistungsanspruchs durch den Gesetzgeber und begründet noch keine Fall-zu-Fall-Freizügigkeit etwa für die Zwecke, die der Gesetzgeber bisher mit dem Sanktionsparagraphen 31 im SGB II möglicherweise verfolgt haben mag. Da der Paragraph in Bezug auf den Zweck der Sanktionen völlig unbestimmt ist und lediglich aussagt, unter welchen Umständen und wie lange die (urteilsgemäß unter keinen Umständen einschränkbare) Leistung abgesenkt wird, steht diese Regelung ja schon länger unter dem Vorbehalt, verfassungswidrig zu sein. (Weitere Informationen und für ein Sanktionsmoratorium bis zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsericht unterschreiben unter www.sanktionsmoratorium.de!) Leider hat das Bundesverfassungsericht diese Prüfung nicht in einem Aufwasch vorgenommen, sodass wir darauf weiter warten und kämpfen müssen!
Bis dahin sollten wir davon ausgehen, dass das Bundesverfassungsericht Sanktionen zumindest de facto für unzuläsig erklärt hat! Jeder, der seine Leistungen von der ARGE abgesenkt bekommt, sollte seinen Widerspruch – neben konkreten Begründungen – auf den Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 beziehen. Die Zitierung wird vom Bundesverfassungsgericht in ihrer Urteilsveröffentlichung vorgegeben:
Zitierung: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. (1 – 220), http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html
Wenn andere Organisationen nicht davon ausgehen möchten, dass das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil Sanktionen abgeschafft hat, so ist das ihr gutes Recht…
Die weiterhin entscheidenden Randziffern 134 bis 138 im Volltext mit zusätzlichen Anmerkungen, etwa zur Bedeutung der Tafeln im Zusammenhang mit Sanktionen:
134 Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen (… ). Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen (…). Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (…) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.
135 Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (…), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (…).
136 Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. [Ein Verweis des Hilfsbedürftigen an die örtliche Tafel als Ersatz seines Grundrechts auf staatliche Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums ist der ARGE daher nicht gestattet, was man gerade in Bezug auf Sanktionen oft versucht!] Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Dies findet auch in weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätzen seine Stütze. Schon aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (…). Dies gilt in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz geht (…). Zudem kann sich der von Verfassungs wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren (…). Schließlich ist die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen sind aber dem Gesetzgeber vorbehalten. Dafür reicht das Haushaltsgesetz nicht aus, weil der Bürger aus ihm keine unmittelbaren Ansprüche herleiten kann (…).
137 Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (…). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.
138 Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben (…). Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden (…). Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (…). Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. [Diese Freiheit besteht natürlich nicht im Zusammenhang mit der Miete, die der Vermieter in Form von Geld erwartet. Daraus ergibt sich direkt die Unzulässigkeit der Totalsanktionierung!] Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht.
Und weiter in Randziffer 145:
Andere Grundrechte, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG, vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen. Entscheidend ist von Verfassungs wegen allein, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird; eines Rückgriffs auf weitere Grundrechte bedarf es hier nicht. [Mit anderen Worten: Das kommt zusätzlich obendrauf!]
[Alle Hervorhebungen von mir!]