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11 Jahre Grundrecht

Heute begehen wir den 11. (in Worten: ELFTEN) Geburtstag des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Am 9. Februar 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht Schluss gemacht mit dem “ins Blaue hinein” bestimmten Regelsatz. Der neue Maßstab ist seitdem die Ermöglichung der sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe, und zwar zu einem Mindestmaß, nämlich dem des Citoyens. Schon bei der Umsetzung 2011 hatten all die neoliberalen Politiker im Deutschen Bundestag aber offenbar ein “Minimalmaß” im Ohr, was angesichts der Artikel 1 (Menschenwürde), 2 (freie Entfaltung der Persönlichkeit) und 3 (Gleichheit vor dem Gesetz) zu einem Hohn in Gestalt des jetzigen Regelbedarfs führte. Für Kinder bleiben sogar weiterhin permanent substanzielle Anteile der Teilhabe aus dem Regelbedarf gleich ganz ausgeklammert und müssen von den Eltern aus dem Bildungs- und Teilhabepaket eigens beantragt werden!

Der Regelbedarf bleibt weiterhin ein Hohn: Ausgaben für einen Weihnachtsbaum werden herausgerechnet und dann kann man auch keine Geschenke darunterlegen. Der Anteil für Genussmittel wie Alkohol und Tabak wird komplett (bis auf den Ersatz der Flüssigkeitsmenge in der sich aus der EVS ergebenden Biermenge durch Billigsprudel) sogar komplett gestrichen! Dem halte ich üblicherweise entgegen: “Seit Jahrhunderten haben Genussmittel im Alltag jedes einzelnen Menschen eine überragende Bedeutung, die nicht nur auf ihre geschmacklichen Eigenschaften zurückzuführen ist, sondern in weit höherem Maße auf ihre kulturellen Zuschreibungen und Bewertungen.” (aus: “Genußmittel – Eine Kulturgeschichte”, erschienen im Insel-Verlag) Selbst das Vergleichsportal Verivox bemängelt schon, dass der Regelbedarf 2021 Stromkosten nicht ausreichend abdeckt! Die Strompauschale sei im Durchschnitt um 22 Prozent zu niedrig bemessen. Außerdem würde der Fehlbetrag von Jahr zu Jahr größer! “Skandal!”, möchte ich da lesen, auch wenn man es nicht so nennen will. Noch viel skandalöser ist freilich, dass der ganze Rest derer, die auch Menschen in der Grundsicherung als Kunden haben bzw. nicht verlieren wollen, zu den sie betreffenden Anteilen im Regelbedarf beharrlich schweigt, vor allem der Einzelhandel und darunter – für mich persönlich am skandalösesten – der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, wo man sich schon längst “Für Hartzer gibt es keinen Handke” zu Herzen hätte nehmen müssen!

Und dann schliddern wir mit der von denselben Hanseln ausgerufenen “epidemischen Lage von nationaler Tragweite” und Monate später sogar mit einem Ermächtigungsgesetz in eine Krise der Politik, der Kultur, der Vergesellschaftung und der Wirtschaft (Gesundheit? Nein, eher weniger…), kurz: in die Corona-Krise und bekommen wiederum in zwei Stufen sogar eine “Maskenpflicht” aufgebrummt, für die KEINE Zulagen zu den Grundsicherungsleistungen bereitgestellt wurden, während anderweitig “Soforthilfen” auf den Weg gebracht wurden (auch wenn sich so mancher bis heute über das Zeitgefühl der Bundesregierung im Zusammenhang mit “sofort” wundert…). Allein dass es Dimensionen (ja: Plural!) braucht, in denen darum gerungen wird, ist grotesk. Erst hat das Landessozialgericht Essen beschieden, dass es keine Zulagen zu geben bräuchte, weil die bis dahin nur geforderten “Community-Masken” im Textil- und Kleidungsanteil des Regelbedarfs – eben pauschal – schon enthalten wären, was dem Sprichwort vom “letzen Hemd” eine ganz neue zynische Bedeutung mitgab. Dann wurden die “medizinischen Masken” auf einmal im Anteil für Hygieneartikel verortet (obwohl die Masken eher Unhygieneartikel sind), dessen Budget dafür zwar technisch wenigstens hinreichend wäre, aber nur um den Preis des Verzichts auf Seife, Shampoo, Zahnpasta – den ganzen Monat lang, jeden Monat!

Und dann kommt der “Wirtschaftsrat” der CDU und lehnt in völliger Unkenntnis wirtchaftlicher Zusammenhänge (siehen einfach weiter oben!) jede Hartz-IV-Erhöhung ab, offenbar sogar ohne jede Differenzierung zwischen dem längst überfälligen Anstieg des Regelbedarfs zum Erreichen des Mindestmaßes an Teilhabe und den durch die Pandemie-Paranoia-Politik selbst aufgezwungenen Zusatzkosten zur Erfüllung der auferlegten Pflichten! Das “Argument” ist zum Schießen: “Der Zugang zu Hartz IV wurde in der Corona-Krise ohnehin bereits erleichtert und großzügiger gestaltet”, entblödet sich Generalsekretär Wolfgang Steiger für einen O-Ton seinen Namen herzugeben. Stehen der Zugang zu Hartz IV und die Höhe des Regelbedarfs in irgendeinem Zusammenhang? Nicht im geringsten! Schlimmer: Der “erleichterte Zugang” wurde für Solo-Selbstständige, Freie und Künstlerinnen als Quasi-Soforthilfe für aufgezwungene Einnahmeausfälle geschaffen, obwohl das Hartz IV-System weder darauf zugeschnitten (Sippenhaft der “Bedarfsgemeinschaft”), noch dafür geeignet ist (Unterdeckung selbst des Existenzminimums). Auch hierzu fällt uns nur “Skandal!” ein.

Darum unterstützen wir gemeinsam mit einer stetig wachsenden Zahl weiterer Organisationen diesen an die Bundesregierung gerichteten Appell des Paritätische Gesamtverband:

Arm sein ist teuer – besonders in der Corona-Krise - unterzeichne jetzt unseren Appell!

Die COVID-19-Pandemie mit all ihren wirtschaftlichen und sozialen Folgen ist eine Herausforderung für uns alle. Doch sie trifft die Ärmsten in der Gesellschaft besonders hart. Sie warten noch immer auf angemessene Unterstützung.

Wir fordern daher…

...die bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro für alle Menschen, die auf existenzsichernde Leistungen wie etwa Hartz IV angewiesen sind. Denn schon vor Corona fehlte es den Armen an Geld für eine ausgewogene, gesunde Ernährung und ein Mindestmaß an sozialer, politischer und kultureller Teilhabe.

...für die Dauer der Krise einen pauschalen Mehrbedarfszuschlag in der Grundsicherung von 100 Euro pro Kopf und Monat. Denn es entstehen durch Corona zusätzliche Bedarfe durch wegfallende Schulessen, Preissteigerungen bei Obst und Gemüse, Mehrausgaben für Hygieneartikel und Masken oder Spielzeug und Bücher für Kinder im Lockdown.

...für die Dauer der Krise ein Verbot von Zwangsräumungen und die Aussetzung von Kreditrückzahlungen, um einkommensarme Menschen vor Corona-bedingtem Wohnungsverlust und Existenznot zu schützen.

Unterzeichnen Sie unseren Appell!

Manfred Bartl
Sprecher der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV

Podiumsdiskussion: Recht auf Mobilität

Der Sprecher der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV, Manfred Bartl, wird am Donnerstag, den 14.02.2019 um 19 Uhr bei der Heinrich Böll Stiftung Rheinland-Pfalz (Walpodenstraße 10, 55116 Mainz) zu Errungenschaften, Herausforderungen und (womöglich) Grenzen (?) des (Grund-)Rechts auf Mobilität diskutieren mit Daniel Köbler MdL (Bündnis 90/ DIE GRÜNEN).

Bitte verbreitet den Termin möglichst unter allen, die geringste Einkommen haben, am Rande der Gesellschaft in Exklusion leben, von Mobilität und Teilhabe abgeschnitten sind und ein Interesse an Fortschritten bei der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums haben, das ein Mindestmaß (KEIN Minimalmaß!) an sozialer, kultureller und politischer Teilhabe (sic!) sicherstellen muss!

Mehrfahrtenstreifen oder Sammelkarten sind keine Alternative

Für eine soziale Mobilität wird bisweilen die Schein-Alternative Mehrfahrtenstreifen bzw. Sammelkarten (Mainz) diskutiert.

Brandneu ist etwa dieser Artikel vom 16. Oktober 2017:

In Wolfenbüttel diskutiert man das Sozialticket als Modellprojekt, bei dem zwei Varianten möglich seien: Vergünstigtes Monatsticket oder Gratis-Zehnerstreifen. Darüber soll der Kreistag in seiner Sitzung am 13. November entscheiden. In dieser Woche befassen sich bereits Finanz- und Sozialausschuss mit den Alternativen. Der Kreistag soll dann die Landrätin damit beauftragen, Verhandlungen mit dem Regionalverband Großraum Braunschweig zu führen. Eine Anfrage zur Förderung des Sozialtickets durch einen obskur, weil nicht nachhaltig klingenden “Zukunftsfonds Asse” steht im Raum.

Für das vergünstigte Monatsticket in den Preisstufen 1 bis 3 (je nach Wohnort, um die Samtgemeinden/Einheitsgemeinden beziehungsweise die Kreisstadt zu erreichen) würde eine einheitliche Eigenbeteiligung von jedem Leistungsberechtigten in Höhe von 25 Euro monatlich verlangt. Die Ausgabe soll durch die Verkehrsunternehmen gegen Vorlage eines Berechtigungsnachweises und eines Identitätsnachweises mit Lichtbild erfolgen, sofern – ACHTUNG! – “Bereitschaft bei den Verkehrsunternehmen besteht”. Alternativ würden die Monatskarten beim Landkreis und beim Jobcenter ausgegeben und notwendige Kartendrucker angeschafft und installiert. Dafür kalkuliert man nach den zugrunde gelegte Prämissen (die ungenannt bleiben) Kosten in Höhe von etwa 1,3 Millionen Euro zuzüglich Personal- und Sachkosten ein.

Als Alternative wird die Einführung von kostenlosen Zehnerstreifen genannt, was “ein Streifen monatlich pro Person” heißen soll. GRATIS! In deren Sprache: “Es würde keine Eigenbeteiligung verlangt.” Die Ausgabe erfolgte durch den Landkreis oder das Jobcenter. Mit den zugrunde gelegten Prämissen (die ungenannt bleiben) entstünden Kosten in Höhe von zirka 764.000 Euro zuzüglich Personal- und Sachkosten.

Muss noch jemand raten, welche Lösung wohl bevorzugt werden wird???

Warum aber ist der Mehrfahrtenstreifen keine Lösung?

Ich bringe gleich das Mainzer Beispiel an, um auch ein konkretes Beispiel für die Asymmetrie der Hin- und Rückfahrten zu liefern. Der Mainzer Einzelfahrschein kostet für Erwachsene 2,80 Euro, während bei der Sammelkarte im 5er-Pack für Erwachsene 11,20 Euro und damit je 2,24 Euro anfallen. Mit dem ÖPNV-Anteil am Regelbedarf der Grundsicherung in Höhe von aktuell 26,44 Euro kann man rechnerisch 11,8, wg. MODULO freilich nur 11 Fahrscheine zum günstigen Preis erwerben (*), kommt also an 6 Ziele mit öffentlichen Verkehrsmitteln heran, kann aber nur 5 mal zurückfahren, muss also einmal zurücklaufen.
(Bei teuren Einzelfahrscheinen ist die Zahl 9,4, wg. MODULO freilich nur 9, also 5 mal hin und 4 mal zurück.)

(*) Vorausgesetzt, man organisiert einen gemeinsamen Kauf der Fahrscheine, weil man allein immer nur Vielfache von 5 bis unterhalb des Limits bezahlen könnte, hier also sogar nur 10 Einzelfahrscheine zum günstigen Preis!

Die Sammelkarten bzw. Mehrfahrtenstreifen sind deswegen keine Lösung, weil Mobilitätskontingente quasi schon am Monatsanfang auf Einkaufen, Besuche, Bemühungen um Anstellung, Arztkonsultationen, Sport etc. – also auf einzelne soziale, kulturelle und politische Teilhabe-Ereignisse aufgeteilt werden müssten, und damit die Mobilität und somit die Teilhabe selbst – im Widerspruch zur gesetzgeberischen Intention! – nicht pauschalisiert, sondern kontingentiert wäre.

Darum ist nur eine pauschalisiert bezahlbare Mobilität via Sozial(monats)ticket grundrechtssicher und menschenwürdig.