Monthly Archives: February 2010

San Hartzvier

1. Ich fordere das Ende von Hartz IV,
Es schickt die Menschen draußen vor die Tür.
Weil es nur Unrecht und nur Armut bringt,
Und weil es jedermann zur Arbeit zwingt.

2. Was nach dem Grundgesetz verboten ist,
Es sei denn, dass du eingekerkert bist.
Man fragt nicht mehr danach, das sagt genug.
Hartz IV gleicht einem offenen Vollzug.

3. Die Strafen dienen nur der Disziplin,
Der Staat will dich zur Fügsamkeit erziehn.
Er treibt sein Spiel, solang bis nichts mehr geht,
Und setzt am Ende dich auf Nulldiät.

4. Die Pisa-Studie bringt es an den Tag
Wieviel man an Talent verschleudern mag.
Gewinne steigen, Löhne bleiben tief,
Ein-Euro-Jobber gibts zum Nulltarif.

5. Bedenkt doch das Schmarotzer-Argument,
Wer nichts schafft, bekommt auch keinen Cent.
Im Altersheim seid ihr dann selbst bedroht,
Ihr könnt nicht mehr, drum gibts den Gandentod.

6. Hinweg mit der Agenda Zwanzigzehn!
Am besten wärs, man würd’ sie nicht mehr sehn.
Die Hartz-Gesetze sind der letzte Stuss,
Beseitigt sie und macht mit ihnen Schluss!

Melodie: “San Quentin” von Johnny Cash
Die Akkord-Begleitung besteht aus den üblichen dreien mit zwei Subdominanten in der zweiten und dritten Zeile.

Der Verfasser ist der Redaktion bekannt.

Auch Hartz4-Plattform sieht Sanktionsparagraphen gekippt

Wie wir meint auch die Wiesbadener Hartz4-Plattform, dass schon mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Sanktionsparagraph des SGB II gekippt wurde (PDF). Als “Lackmus-Test” sah man in Wiesbaden das sich auf dieses Urteil beziehende Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.02.2010, von dem man sich denn auch bestätigt sah (PDF): “Ab sofort muss niemand mehr Leistungskürzungen im Rahmen des Paragraph 31 SGB II hinnehmen.” Die strengen Anforderungen an den Inhalt der Rechtsfolgenbelehrung, die dem individuellen Einzelfall angepasst und “konkret, verständlich, richtig und vollständig” sein müssten, seien nach dem Urteil der Bundessozialrichter vor allem deshalb geboten, weil es sich bei der Herabsetzung der Grundsicherungsleistungen, wie aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 hervorgehe, um einen schwerwiegenden Eingriff handele.

Ein Satz aus der Presseerklärung des Bundessozialgerichts hat für die Wiesbadender Hartz4-Plattform herausragende Bedeutung: “Da der Absenkungsbescheid schon wegen der unzulänglichen Rechtsfolgenbelehrung aufzuheben war, war nicht darüber zu entscheiden, ob die im Bescheid angeordnete völlige Streichung der Regelleistung für einen Zeitraum von drei Monaten zulässig war.” Dass sie nicht zu prüfen gehabt hätten, ob die Sanktion verfassungswidrig sei, wäre “ein an Deutlichkeit nicht zu überbietender Wink mit dem Zaunpfahl an alle Verwaltungen und Sozialgerichte”. Mir erscheint das eher wie der feige Rückzieher, eine Frage des allgemeinen Interesses endgültig zu klären, bevor auch diese wieder am Bundesverfassungsgericht hängenbleibt. Warum traut man sich nur nicht, etwas so Offenkundiges auszusprechen? Zumal man damit zum Helden der breiten Massen werden würde?!

Bundessozialgericht entscheidet gegen Sanktionierung

In seiner Entscheidung vom 18.02.2010 hat das Bundessozialgericht an der Oberfläche zwar nur eine Sanktion für hinfällig erklärt, in der Tiefe des Urteils steckt aber wesentlich mehr: Indem das BSG sich explizit auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil bezieht, demzufolge eine Sanktion einen “schwerwiegenden Eingriffin ein Grundrecht wie eben das soziokulturelle Teilhabeminimum darstellt, müsse jede/r Hilfebedürftige über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung “konkret, verständlich, richtig und vollständig” belehrt werden, damit die Umsetzung der in Betracht kommenden Verhaltensanweisungen und möglicher Maßnahmen auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalls überhaupt gelingen kann.

Aber wie soll das gehen, wenn das SGB II für Sanktionen weder Zweck noch Begründung vorsieht? Der Paragraph 31 SGB II sagt lediglich aus, dass und aus welchem Anlass eine Sanktion eintritt. Aber auch bei einer Revision des SGB II zum Jahresende sehe ich kaum einen Spielraum für den asozialen Gesetzgeber: Die Grundrechte einzuschränken, da braucht es schon etwas mehr als eine “Meldepflichtverletzung” oder eine – nach Artikel 12 GG unbenommen bleibende – Ablehnung eines Stellenangebots!

Tacheles: Überprüfungsanträge NICHT zurückziehen!

Inzwischen ruft auch die Sozialhilfeinitiative Tacheles dazu auf, die von ihr selbst angestoßenen Überprüfungsanträge (und alle etwaige in Anspruch genommenen Rechtsbehelfe) nicht zurückzuziehen! Während auch unser Argument unverändert gilt (eine neue – und dann letzte – Chance für das Bundesverfassungsgericht durch die Instanzen zu initiieren, das Sozialstaatsgebot auch rückwirkend zu sichern), hat Tacheles seine Meinung geändert, weil am 18.02.2010 (also nur 9 Tage nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil) das Bundessozialgericht entschieden hat (BSG v. 18.02.2010 – B 4 AS 29/09 R), dass sowohl die Ansprüche des aktuellen BMAS- bzw. BA-Katalogs zur Härtefallregelung des BVerfG als auch “durchaus weitere Ansprüche” (wie der Vorsitzende des 4. Senats, Thomas Voelzke, bei der Urteilsverkündung zudem klargestellt hatte, weil die Härtefallliste der BA/des BMAS keinesfalls eine abschließende Liste sei) auch rückwirkend bestünden, falls die jeweiligen Bescheide noch nicht rechtskräftig sind und nach der individuellen Prüfung des Einzelfalls ein derartiger Anspruch zu bejahen ist. Und welcher Bewilligungsbescheid ist denn schon rechtskräftig?

Entsprechend dieser Bedarfslagen wird Tacheles in der nächsten Zeit eine fundierte Liste erarbeiten und sie der Härtefallliste von BA/BMAS entgegenhalten, in der die jeweiligen möglichen Bedarfe konkretisiert werden. Wenn solche Bedarfe bestanden haben, müsste der Überprüfungsantrag dahingehend konkretisiert werden und dann das Rechtsmittelverfahren weiter betrieben werden. Tacheles wird dazu entsprechende Musterschriftsätze fertigstellen, worin zumindest die Richtung der Konkretisierung aufgezeigt wird.

Sollten dahingehende Bedarfe derzeit und aktuell vorliegen, empfiehlt es sich, diese unverzüglich beim SGB-II-Leistungsträger zu beantragen. Werden diese abgelehnt oder reagiert die Behörde nicht zeitnah, sollte unverzüglich der Anspruch auf dem Wege einer Eilklage über das Sozialgericht durchgesetzt werden.

Erwerbslosenfrühstück in Mainz

Seit Januar 2010 bietet auch die Arbeitsloseninitiative “KAKTUS” am 1. Mittwoch jedes Monats zwischen 9 Uhr und 11 Uhr zum Erwerbslosenfrühstück an, das im Matthäussaal (hinter der Christuskirche) stattfindet.

Nächster Termin (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Blog-Beitrags): Mittwoch, den 3. März 2010

Schon länger hat sich die Tradition des Erwerbslosenfrühstücks bei der Partei DIE LINKE. Mainz-Stadt etabliert, das am 3. Sonntag jedes Monats in der Landesgeschäftsstelle, Rochusstraße 10-12, ab 10:30 bis 13:30 Uhr stattfindet. Neben dem Frühstück “zum Austauschen von Problemen und Tipps” steht außerdem “unser Anwalt mit juristischer Fachkenntnis zur Seite”.

Nächster Termin (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Blog-Beitrags): Sonntag, den 21. Februar 2010

Pressespiegel zur Jeden-Monat-Demo im Februar 2010

Aus der Serie “Hartz IV – Gelobt, gehasst, gescheitert?” in der MRZ vom 19.02.2010:

Hartz-IV-Empfänger fühlen sich von Westerwelle diffamiert

Wie ein Dutzend Demonstranten in Mainz Parolen und Plakate schwingt

von Rena Lehmann

MAINZ.  Während die Bundespolitik über Hartz IV streitet, trägt in Mainz ein Dutzend Hartz-IV-Empfänger Plakate durch die Stadt. Die Mitglieder der Mainzer Initiative “Gegen Hartz IV” sind sauer auf Guido Westerwelle. Die “spätrömische Dekadenz”, die er bei den Beziehern staatlicher Hilfen beobachtet haben will, ist in ihren Ohren “Volksverhetzung”. Deshalb sind diesmal sogar ein paar mehr Leute als sonst bei der “Jeden-Monat-Demo” in der Mainzer Innenstadt. Ein Kamerateam filmt, auch das kam schon länger nicht mehr vor. Hartz IV ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts großes Thema. Endlich, meinen die Demonstranten. “Das Gericht hat bestätigt, was wir lange wussten: Hartz IV verstößt gegen die Menschenwürde”, sagt Manfred Bartl.

Fehlende Masse wird von den Demonstranten mit starken Worten und großen Plakaten ausgeglichen. “Mit der Härtefallregelung werden alle Alg-II-Empfänger über einen Kamm geschoren. Aber jeder Hartz-IV-Empfänger ist ein Einzelfall”, wiederholen sie gebetsmühlenartig. Manche Passanten blicken belustigt auf die Truppe, einige bleiben stehen, wenige suchen das Gespräch. “Die Menschen sind schlecht informiert. Und wir wissen nicht, wie wir die Arbeitslosengeld-II-Empfänger erreichen sollen”, sagt eine Teilnehmerin. Eine Zeitung könnten sich die meisten nicht leisten. Außerdem glaubten viele Hartz-IV-Empfänger, sie stünden allein da. “Sie sind resigniert und leiden still zu Hause.” Der Marsch dauert nur eine knappe halbe Stunde. Auf dem Gutenbergplatz, wo sonst immer die Abschlusskundgebung stattfindet, laufen noch die Aufräumarbeiten nach den närrischen Tagen. Deshalb ist heute vor dem Verdi-Haus am Münsterplatz Schluss. Sollen sie trotzdem eine Kundgebung machen? Unentschlossen blicken alle in die Runde. Schließlich sagt einer ein paar Worte. Die hier Versammelten wissen ohnehin, worum es ihnen geht: Hartz IV muss weg.

Am lautesten ruft Werner Feig diese Parole. Er hatte vom bayrischen Regensburg aus die Geschichte des arbeitslosen Henrico Frank verfolgt. Ministerpräsident Kurt Beck riet ihm, “sich zu rasieren” – dann würde er auch einen Job finden. Der Fall schrieb Schlagzeilen. Schließlich sorgte der Ministerpräsident selbst dafür, dass der Mann ein Stellenangebot erhielt. Der lehnte jedoch aus gesundheitlichen Gründen ab. Feig nutzte die Gelegenheit und bewarb sich von Regensburg aus auf die Stelle. Für ihn sah anfangs alles so aus, als würde es mit einer Arbeit in Mainz klappen. Feig zog von Bayern nach Rheinland-Pfalz – doch der Arbeitgeber zog sein Angebot zurück. Die Mainzer und die Regensburger Arge schoben sich daraufhin die Zuständigkeit für Feig hin und her, wie er sagt. Vor ihm liegt ein dicker Ordner mit Akten, der seinen Papierkrieg mit den Argen enthält. “Mit den Anträgen bin ich stärker beschäftigt, als wenn ich eine Arbeit hätte.” Sein Blick sagt: Wo ich hinkomme, widerfährt mir Ungerechtigkeit. Sein Mitstreiter Manfred Bartl fährt seit Monaten aus Protest schwarz. 15 Euro sind im Hartz-IV-Regelsatz von 359 Euro für Mobilität vorgesehen, das Mainzer Sozialticket ist mit knapp 50 Euro aber mehr als dreimal so teuer. Es ist nur eine von vielen Ungerechtigkeiten, die das Gesetz und seine Praktiken aus seiner Sicht bedeuten. Vier Berufe kann er, wie er sagt, und bezeichnet sich selbst nicht als arbeits-, sondern als erwerbslos. Er will sich “dieser Gesellschaft verweigern”, solange sie nicht Mindestlöhne und eine 30-Stunden-Woche einführt. So wie er müssten es viele machen, meint er. “Die Menschen dürften einfach keine Job annehmen, bei denen Niedriglöhne gezahlt werden. Aber die Leute lassen das alles mit sich machen.” Eine andere Teilnehmerin wiegelt bei seinen Worten ab: Sie will sich nicht verweigern, ärgert sich aber, dass im Job-Center dauert ihr Arbeitsvermittler wechselt und niemand sie ernsthaft beraten kann.

Ob Bartl auch seinen Kindern später zu Verweigerung raten will? “Dazu wird es gar nicht kommen”, erklärt er im Brustton der Überzeugung. Bis dahin werde es keine Job-Center mehr geben. Und auch kein Hartz IV. Wie es scheint, glaubt er selbst tatsächlich daran.

Bewertung des Job-Centers

Wer anderen Betroffenen ihre oder seine Erfahrungen mit dem Job-Center Mainz mitteilen möchte, kann bei sozialhilfe24.de eine detaillierte Bewertung inkl. Freitextkommentar abgeben. Die Einzelbewertung fließt in eine sehr aufschlussreiche gemittelte Gesamtbewertung ein.

Einige der 60 bisher abgegebenen Kommentare deuten daraufhin, dass die Betroffenen in Mainz noch sehr viel mehr Informationen, Beistand und Miteinander gebrauchen können, wobei die Dunkelziffer noch wesentlich höher angesetzt werden muss, da viele Leistungsberechtigte nach Hartz IV (bisher!) zeitweise ohne Internet hatten auskommen müssen oder – aus diversen Gründen – nie einen eigenen Zugang zum Internet besessen hatten.

Aufruf zur 10. Jeden-Monat-Demo

Die Jeden-Monat-Demo am Aschermittwoch 2010 startet wie gewohnt um 12 Uhr bei ver.di am Münsterplatz in Mainz. Anders als sonst üblich findet die Abschlusskundgebung allerdings nicht auf dem Gutenbergplatz statt, sondern wieder auf dem Münsterplatz. Der Rundkurs der Demo ist “Fastnachtsrückständen” geschuldet.

Themen sind u.a. Kinderarmut und das – bahnbrechende und nichtsdestotrotz viel zu zurückhaltende – Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zum Eckregelsatz, zur Menschenwürde nach Artikel 1 Grundgesetz als Grundlage des gesetzlichen Anspruchs auf soziokulturelle Mindestteilhabe und zu spezifischen Kinderbedarfen sowie der sozialrassistische Schub, den die öffentliche Meinung seitdem durch die volksverhetzenden Äußerungen von Außenminister Westerwelle erfahren hat.

Bundesverfassungsgericht schafft Sanktionen ab!

Das Bundesverfassungsericht hat in seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010 das Existenzminimum, das in Paragraph 1 SGB II noch (etwas mickrig) als “Sicherungs des Lebensunterhalts” formuliert ist, direkt auf Artikel 1 des Grundgesetzes bezogen und es mit Artikel 20 Grundgesetz verknüpft (Randziffer 133):

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (…). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind (…). Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.

Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet: “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Eine “unantastbare” Würde ist nicht nur grundsätzlich, sondern auch zeitlich unbeschränkt unanstastbar. Zusammen mit der Formulierung “Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt” aus Randziffer 137 hat dies zur Folge, dass Sanktionen nach Paragraph 31 SGB II in Zukunft unzulässig sind, weil eine abgesenkte Leistung, die in ihrem gesetzlich festgelegten Umfang der “Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums” dienen muss, auf die “jeder individuelle Grundrechtsträger” einen “unmittelbar verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch” hat, diesen Anspruch nicht mehr erfüllen könnte, insoweit dieser so definiert ist, dass er “sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind, erstreckt”!

Einzig möglich ist dem Gesetzgeber theoretisch eine Einschränkung der Erfüllung des Leistungsanspruchs in Geldform, wie Randziffer 138 bemerkt: “Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen.” Dass dies praktisch kaum durchsetzbar sein dürfte, lässt sich in zweierlei Hinsicht konkretisieren:

a) Randziffer 138 hält dem Gesetzgeber allerdings das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG vor Augen, das den Gesetzgeber anhalte, “die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht (…) zu erfassen”, die Grundsicherungsleistungen in Gutscheinform aufgrund ihrer erniedrigenden Begleiterscheinungen praktisch ausschließt und unter Rückbezug auf die dem Gewährleistungsanspruch nun zugrunde gelegte Menschenwürde auch tatsächlich für obsolet erklärt.
Dass die soziale Wirklichkeit sich “in einer technisierten Informationsgesellschaft” auch in der Mitwelt noch einmal anders als früher darstelle, ist ein weiterer Hinweis auf diesen Umstand, denn wenn man etwa an der Kasse von LIDL im Fokus der Überwachungskameras steht, möchte man sich nicht nur von den Mitmenschen, sondern natürlich auch nicht vor der Marktleitung oder vor noch höheren Leitungsebenen als Gutscheineinlöser beobachtet fühlen.

b) Darüber hinaus bezieht sich dieser Hinweis auf die grundsätzliche Bestimmung des allgemeingültigen Leistungsanspruchs durch den Gesetzgeber und begründet noch keine Fall-zu-Fall-Freizügigkeit etwa für die Zwecke, die der Gesetzgeber bisher mit dem Sanktionsparagraphen 31 im SGB II möglicherweise verfolgt haben mag. Da der Paragraph in Bezug auf den Zweck der Sanktionen völlig unbestimmt ist und lediglich aussagt, unter welchen Umständen und wie lange die (urteilsgemäß unter keinen Umständen einschränkbare) Leistung abgesenkt wird, steht diese Regelung ja schon länger unter dem Vorbehalt, verfassungswidrig zu sein. (Weitere Informationen und für ein Sanktionsmoratorium bis zur Überprüfung durch das Bundesverfassungsericht unterschreiben unter www.sanktionsmoratorium.de!) Leider hat das Bundesverfassungsericht diese Prüfung nicht in einem Aufwasch vorgenommen, sodass wir darauf weiter warten und kämpfen müssen!

Bis dahin sollten wir davon ausgehen, dass das Bundesverfassungsericht Sanktionen zumindest de facto für unzuläsig erklärt hat! Jeder, der seine Leistungen von der ARGE abgesenkt bekommt, sollte seinen Widerspruch – neben konkreten Begründungen – auf den Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 beziehen. Die Zitierung wird vom Bundesverfassungsgericht in ihrer Urteilsveröffentlichung vorgegeben:

Zitierung: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. (1 – 220), http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html

Wenn andere Organisationen nicht davon ausgehen möchten, dass das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil Sanktionen abgeschafft hat, so ist das ihr gutes Recht…

Die weiterhin entscheidenden Randziffern 134 bis 138 im Volltext mit zusätzlichen Anmerkungen, etwa zur Bedeutung der Tafeln im Zusammenhang mit Sanktionen:

134 Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen (… ). Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen (…). Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (…) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.

135 Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (…), als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen (…).

136 Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. [Ein Verweis des Hilfsbedürftigen an die örtliche Tafel als Ersatz seines Grundrechts auf staatliche Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums ist der ARGE daher nicht gestattet, was man gerade in Bezug auf Sanktionen oft versucht!] Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Dies findet auch in weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätzen seine Stütze. Schon aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (…). Dies gilt in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz geht (…). Zudem kann sich der von Verfassungs wegen bestehende Gestaltungsspielraum des Parlaments nur im Rahmen eines Gesetzes entfalten und konkretisieren (…). Schließlich ist die Begründung von Geldleistungsansprüchen auch mit erheblichen finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Derartige Entscheidungen sind aber dem Gesetzgeber vorbehalten. Dafür reicht das Haushaltsgesetz nicht aus, weil der Bürger aus ihm keine unmittelbaren Ansprüche herleiten kann (…).

137 Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (…). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.

138 Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben (…). Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden (…). Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (…). Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. [Diese Freiheit besteht natürlich nicht im Zusammenhang mit der Miete, die der Vermieter in Form von Geld erwartet. Daraus ergibt sich direkt die Unzulässigkeit der Totalsanktionierung!] Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht.

Und weiter in Randziffer 145:

Andere Grundrechte, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG, vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen. Entscheidend ist von Verfassungs wegen allein, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird; eines Rückgriffs auf weitere Grundrechte bedarf es hier nicht. [Mit anderen Worten: Das kommt zusätzlich obendrauf!]

[Alle Hervorhebungen von mir!]

Überprüfungsantrag aufrechterhalten!

Entgegen dem Aufruf von Harald Thomé von Tacheles, die angestoßenen Überprüfungsanträge zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gezahlten Regelsätze aller gemäß Paragraph 44 SGB X bis zu vier Jahre zurückliegenden SGB-II-Bescheide zurückzuziehen, kann ich nur empfehlen, dieser Aufforderung nicht zu folgen!

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zwar rückwirkende Ansprüche expressis verbis ausgeschlossen, zugleich aber eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz festgestellt. Absatz 4 des Artikel 20 Grundgesetz besagt: “Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [nach Absatz 1 d. Art., dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.” Für diese Abhilfe hat das Bundesverfassungsgericht also trotz des vollendeten Versuchs der Beseitigung dieser Ordnung nicht gesorgt und damit den Widerstandsfall festgestellt. Wer nun nicht gleich zur Waffe greifen will, sollte dem Bundesverfassungsgericht durch diesen Überprüfungsantrag eine allerletzte Chance einräumen!

Darüber hinaus werden die eher unzufriedenen Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht ihre Möglichkeiten ausloten, entweder vor dem EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) oder vor dem EuGH (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften) doch noch umfassend Gehör zu finden.