Jürgen Borchert sitzt dem 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts vor, der die vom Bundesverfassungsgericht angestoßene Reform der Hartz-IV-Bedarfssätze 2011 initiierte. In der Süddeutschen Zeitung erklärt er, warum die Agenda 2010 so verheerende Konsequenzen hat.
Interviewer Hans von der Hagen fragt Borchert, wie die Agenda 2010 “Deutschland verändert” habe. Der Sozialrichter hat eine glasklare Ansicht dazu: “Die Agenda 2010 hat einen wesentlichen Beitrag dafür geleistet, dass unser Wirtschaftssystem den Idealen der sozialen Marktwirtschaft Hohn spricht. Wir haben den Aufstieg der Bundesrepublik besonders der Tatsache zu verdanken, dass man sich lange Zeit klar darüber war, dass die Kraftreserven jeder Volkswirtschaft im untersten Einkommensdrittel liegen. Über Jahrzehnte wurde entsprechend darauf geachtet, dass sich die Lohnspirale von unten nach oben drehte. Mit der Agenda 2010 wurde diese Richtung umgedreht: Die Lohnspirale wurde nach unten programmiert.
[Wir erleben] eine Entwicklung, die mit Erosion und Abwärtsmobilität der Mittelschicht beschrieben werden kann. Dabei ist sie der Garant für demokratischen und sozialen Frieden in Deutschland. Dieses Fundament ist durch die Agenda 2010 brüchig geworden. In ihrem Schatten hat sich nun eine breite Unterschicht etabliert. Acht Millionen Menschen sind im Niedriglohnsektor beschäftigt, die mit ihrem Einkommen nicht einmal die Existenz sichern können. Warum in diesen Tagen die Agenda 2010 als Erfolg begriffen wird, ist mir ein Rätsel.”
Auf die – etwas suggestive – Entscheidungsfrage (Ja/Nein) “Lässt sich noch von einer sozialen Marktwirtschaft sprechen, wenn so viele Menschen mit der Arbeit ihre Existenz nicht mehr sichern können?” antwortet Borchert: “Die soziale Marktwirtschaft war immer von dem Konsens getragen, dass es Aufgabe der Wirtschaft ist, dem Menschen zu dienen. Doch wenn eine Wirtschaft es nicht schafft, Menschen, die hart arbeiten, das Auskommen zu sichern, gleichzeitig eine hauchdünne Oberschichte unvorstellbare Reichtümer anhäuft, [dann] ist das die Aufkündigung der sozialen Marktwirtschaft. Vor unseren Augen entsteht eine Verfestigung von Armut in der bundesdeutschen Gesellschaft, die früher nicht vorstellbar war. Das reicht weit in die Zukunft hinein, denn einige Jahre Beschäftigung im Niedriglohnsektor oder im Hartz-IV-Bezug programmieren Rentenarmut.”
Auf die Frage, welche Bestandteile der Agenda 2010 den Arbeitsmarkt am stärksten verändert hätten, klärt Borchert auf: “Es ist das Zusammenwirken der Hartz-I- und Hartz-IV-Reform. Damit hat sich der Staat einseitig auf die Seite der Leiharbeitsunternehmen und der Arbeitgeberschaft geschlagen. Hartz I und Hartz IV müssen immer zusammen gesehen werden. Hartz I war die Entfesselung der Leiharbeit und den Leiharbeitsunternehmen wurde mit dem Sanktionsmechanismus von Hartz IV die Arbeitskraft in Scharen zugetrieben. Hartz IV sorgt dafür, dass um jeden Preis und für jeden Preis Arbeit angenommen werden muss.”
Dazu ergänzend: “Die Hartz-Reformen stellen die Regulierungsnotwendigkeiten [der Leiharbeit] doch nachdrücklich unter Beweis, denn die Kapitalseite hat im Arbeitsmarktpoker durch Hartz I und IV den Joker in die Hand bekommen, gegen den die Gewerkschaften kaum noch einen Stich bekommen. Mit der Agenda 2010 hat die damals rot-grüne Regierung den Bedürfnissen der entfesselten Finanzmärkte Rechnung getragen, die mit der vollen Mobilität ihres Kapitals natürlich auch sämtliche Fesseln ablegen wollten, die ihnen durch die nationalen Arbeitsmärkte noch verblieben waren.”
Auf die Frage, ob Borchert dem Drogeriemarkt-Gründer Götz Werner Recht gibt, der Hartz IV “offenen Strafvollzug” nennt, meint er, diese Ansicht noch dramatisch verschärfend: “Das kann man so sehen. Es ist nämlich erstaunlich: Bei einer Straftat wie einer mittelschweren Körperverletzung darf die fällige Geldstrafe das pfändungsfreie Einkommen [*], also das Existenzminium, nicht antasten. Wenn Sie aber zu spät zum Laubharken antreten oder Pflichtbewerbungen nicht erledigen, dann bekommen Sie Sanktionen aufgebrummt, die auch auf das Existenzminimum zugreifen. Mit solchen Pflichtwidrigkeiten ist man also als einfacher Arbeitsloser unter Umständen übler dran als ein Straftäter.”
[*] Der Eckbetrag der Pfändungsfreigrenze beträgt seit 01.07.2011 genau 1028,89 Euro monatlich (ansonsten: Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung 2011 gemäß Paragraph 850c der Zivilprozessordnung (PDF) via finanztip.de).
Das sind sehr klare Worte, für die ich Jürgen Borchert angesichts der geistigen Unbeweglichkeit beim Rest der Welt – insbesondere bei der SPD, die die Agenda 2010 in “befremdlicher Feierlaune” begeht – herzlich danke!