LINKSFRAKTION stellt Antrag auf Abschaffung aller Sanktionen bei Hartz IV

Heute, am Freitag, den 6. Juni 2014, stellt die LINKSFRAKTION im Deutschen Bundestag den Antrag auf Abschaffung aller Sanktionen im SGB II (Hartz IV) und aller Leistungseinschränkungen im SGB XII!

Wie Katja Kipping vermeldete, werden sie und Sabine Zimmermann den Antrag mit je einem Redebeitrag vertreten und auch live zu sehen sein in der Mediathek des Bundestages. Die Übertragung beginne ab 10:45 Uhr und läuft schätzungsweise bis 12:30 Uhr.

Viel Erfolg!!!

Der Antrag im Wortlaut (PDF) oder hier:

Deutscher Bundestag Drucksache 18/1115

18. Wahlperiode 09.04.2014

Antrag

der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W. Birkwald, Thomas Lutze, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das menschenwürdige Existenzminimum ist durch das Grundgesetz verfassungsrechtlich geschützt. Es ergibt sich aus der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot (BVerfG 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010). Die Menschenwürde nach Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) begründet den Leistungsanspruch. Das Sozialstaatgebot erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Der konkrete Leistungsumfang ist durch den Gesetzgeber auf der Grundlage einer Bedarfsberechnung festzulegen.

Mit dieser Festlegung konkretisiert der Gesetzgeber – sofern diese Ermittlung ihrerseits verfassungskonform vollzogen wurde – das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist „dem Grunde nach unverfügbar“ (Nr. 133) und der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er „stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt“ (Nr. 137).

In Deutschland erfolgt die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums über die Sicherungssysteme Hartz IV und Sozialhilfe (gemäß dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – SGB II und SGB XII). Mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sind gesetzliche Regelungen unvereinbar, die zu einer Unterschreitung des Existenzminimums führen. Sanktionen in Form einer Minderung oder eines vollständigen Wegfalls der Leistungen (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) und Leistungseinschränkungen (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch) führen aber zu einer Unterschreitung des gesetzlich festgelegten menschenwürdigen Existenzminimums.

Ebenso wie das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht „migrationspolitisch“ zu relativieren ist – so das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz (BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Absatz-Nr. 121) -, darf es „arbeitsmarktpolitisch“ nicht relativiert werden, indem jenseits der Bedürftigkeit ein bestimmtes Verhalten der Leistungsberechtigten zur Voraussetzung des Leistungsbezugs gemacht wird (vgl. Wolfgang Neskovic/Isabel Erdem: Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: SGb 2012, 134-140; Wolfgang Neskovic: Sanktionen im SGB II – nur problematisch oder verfassungswidrig? Thesen zu einem Streitgespräch, in: info also 2013, 205 f.).
Sanktionen und Leistungseinschränkungen im Sozialrecht sind der Ausdruck eines Sozialstaats, der in dieser Hinsicht als paternalistischer Erziehungsstaat agiert. Insofern sind Sanktionen und Leistungseinschränkungen Überbleibsel einer armenrechtlichen Tradition des Arbeitshauses und der Disziplinierung zu Wohlverhalten, die bis heute weiterwirkt. In dieser Tradition werden leistungsberechtigte Menschen als Erziehungsbedürftige angesehen. Mit einem demokratischen Sozialstaat, der von Rechtsansprüchen der Bürgerinnen und Bürger ausgeht, ist dieses Denken unvereinbar.

Sanktionen und drohende Leistungseinschränkungen zielen auch auf die Mitte der Gesellschaft und führen zu Ängsten und Verunsicherung bei den Beschäftigten. Der Druck, auch niedrig bezahlte Beschäftigung anzunehmen, hat prekäre Beschäftigungsformen auf dem Arbeitsmarkt verfestigt und führt zu niedrigen Löhnen. Die Handlungsfähigkeit der Interessenvertretungen der Beschäftigten und der Gewerkschaften wird geschwächt.

Nicht nur aus den Perspektiven von Demokratie und Verfassungsrecht sind Sanktionen und Leistungseinschränkungen abzulehnen. Es gibt darüber hinaus keinerlei Belege für eine arbeitsmarktpolitisch sinnvolle Wirkung. Die SGB-IILeistungsberechtigten sind bereits jetzt vielfältig aktiv: sie gehen Erwerbsarbeit nach, sie pflegen und betreuen Kinder, Eltern, Kranke und/oder sind ehrenamtlich tätig. Die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit muss und kann nicht durch Sanktionen oder Leistungseinschränkungen erzwungen werden. Die Motivation zur Erwerbsarbeit ist in aller Regel vorhanden. Wo Sanktionen vorgenommen werden, führen sie nicht zu wünschenswerten Verhaltensänderungen. Im Gegenteil: Vertrauen in die Jobcenter geht verloren und teilweise brechen Sanktionierte den Kontakt mit den Jobcentern ganz ab (vgl. Klaus Dörre u. a.: Bewährungsproben für die Unterschicht. Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt am Main 2013; Helmut Apel, Dietrich Engels: Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II und nach dem SGB III in NRW, 2013).

Erwerbslosigkeit ist entgegen der Unterstellung des Aktivierungsansatzes nicht das Ergebnis von „falschem“ Verhalten der Arbeitsuchenden, das durch Sanktionen geändert werden könnte, sondern hat ihre Ursache in den strukturellen Problemen des Kapitalismus. Das arbeitsmarktpolitische Paradigma der „Aktivierung“ individualisiert dagegen gesellschaftliche Probleme. Auf diese Art und Weise werden die Opfer des Arbeitsmarktes zu „Tätern“ umgedeutet. Außerdem werden Leistungsbeziehende mit Sanktionsandrohungen in Jobs mit schlechten Löhnen und Arbeitsbedingungen gezwungen (IAB-Kurzbericht 15/2010). Hartz-IVLeistungsberechtigte sind wehrlos gegenüber den Zumutungen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse. Dies führt auch zur Disziplinierung aller Beschäftigten. Aus Angst vor Jobverlust mit anschließendem Bezug von Hartz-IV-Leistungen sind sie bereit, Verschlechterungen von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Durch die Minderung bzw. den vollständigen Wegfall von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch wird das menschenwürdige Existenzminimum unterschritten oder sogar komplett vorenthalten. Selbst die Wohnkosten werden nicht verschont. Junge Erwachsene werden besonders häufig und drastisch sanktioniert. Das Sanktionsrecht verbreitet Angst und Existenznot unter den Betroffenen. Es untergräbt ihre Würde, weil sie zu Objekten der staatlichen Bürokratie degradiert werden.

Sanktionierte haben nur selten die Möglichkeit, die finanziellen Einbußen zu überbrücken. Soziale Isolierung und Verelendung sind daher die Folge: Diese zeigt sich in einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes, einer zunehmenden Verschuldung und einem spürbaren Anstieg der Wohnungslosigkeit der betroffenen Personen. Insbesondere bei den unter 25-Jährigen wird die Zunahme der Wohnungslosigkeit in einen ursächlichen Zusammenhang mit den Hartz-IV-Regelungen gebracht (BAG Wohnungslosenhilfe, Pressemitteilung vom 28.1.2008). Sanktionen „aktivieren“ die Betroffenen in einer äußerst unproduktiven Art und Weise: Die Sanktion zieht einen „Überlebenskampf“ nach sich, der Zeit und Energie vollständig bindet. Viele, insbesondere junge Erwerbslose, brechen ihren Kontakt zu den zuständigen Behörden ab. Damit verschwinden diese Personen sowohl aus der Statistik als auch aus den öffentlichen Unterstützungssystemen (Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, NDV 3/2100, S. 11 ff.; Berliner Kampagne gegen Hartz IV: Wer nicht spurt, kriegt kein Geld, Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende. Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen. Berlin 2008).

Eine sanktionsfreie Mindestsicherung beseitigt die grundrechtswidrige Möglichkeit der Unterschreitung des Existenzminimums, beugt sozialen Verwerfungen vor und stärkt die Würde der Leistungsberechtigten. Eine sanktionsfreie Mindestsicherung macht die Leistungsberechtigten zu handlungsfähigen Subjekten gegenüber den Behörden und auf dem Arbeitsmarkt. Die Träger der Sozialleistungen müssen den Leistungsberechtigten attraktive und individuell angemessene Angebote machen, um von den Leistungsberechtigten als konkrete Hilfe angesehen zu werden. Die Organisation und die Instrumente der Sozialleistungssysteme sind stärker an den Bedürfnissen der Leistungsberechtigten auszurichten.

Der Bundestag begrüßt aus den genannten Gründen gesellschaftliche Aktivitäten und Initiativen, die die Abschaffung aller Sanktionsmöglichkeiten im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und aller Möglichkeiten von Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch befördern. Der Bundestag begrüßt ausdrücklich die Petition von Inge Hannemann zur Abschaffung der Sanktionen und Leistungseinschränkungen, die von rund 90 000 Menschen unterstützt wurde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf mit folgenden Kernpunkten vorzulegen:

1. Im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch werden sämtliche Sanktionen und Leistungseinschränkungen abgeschafft. Eine Unterschreitung der Leistungen unter das Niveau der gesetzlich festgelegten Regelbedarfe wird dadurch ausgeschlossen.

2. Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen einen Verwaltungsakt, der Sanktionen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch feststellt, haben eine aufschiebende Wirkung.

Berlin, den 9. April 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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