Gegen Bildungskahlschlag!

Beim zusätzlichen Aufmarsch der Jeden-Monat-Demo zur Bildungsstreik-Demo des Mainzer Bildungsstreik-Bündnisses haben wir einen Redebeitrag zur Abschlusskundgebung auf dem Gutenbergplatz beigesteuert. Hier das Transkript der Rede von Manfred Bartl:

Liebe Schülerinnen und Schüler!
Liebe Auszubildende!   Liebe Studierende!
Liebe Erwerbslose!
Liebe Bildungshungrige!

Mein Name ist Manfred Bartl und ich spreche zu Euch als Mitorganisator der Jeden-Monat-Demo, die sich auch dieses Jahr wieder solidarisch der Bildungsstreik-Demo angeschlossen hat – mit einem zusätzlichen Aufmarsch!

Ich bin hier als Sprecher der Mainzer Initiative gegen HARTZ IV und als Vorstandsmitglied von Linkswärts e. V., dem Mainzer Verein, unter dessen Mitwirkung Anfang November 2008 der bundesweite Bildungsstreik von Heidelberg aus initiiert wurde.

Und nicht zuletzt stehe ich hier als Euer unabhängiger Bildungsstreik-Kandidat im Mainzer Wahlkreis 27 zur Landtagswahl Rheinland-Pfalz 2011!

Erwerbslose, SchülerInnen, Auszubildende, Studierende – eigentlich befinden wir alle uns in derselben Lage: Unsere Regierenden haben den Wassereimer der Staatsfinanzen mit großzügiger Geste in die blühenden Auen der Finanzmärkte geleert – und jetzt bohren sie Löcher in den Boden, damit das ohnehin nicht mehr vorhandene Wasser leichter ablaufen bzw. sich gar nicht mehr ansammeln kann.

Ein paar Löcher für die Bildung
: das Sparprogramm des zertifizierten Studienabbruchs bekannt unter dem Namen Bachelor;   der gerade in Hessen – trotz kämpferischer Proteste auch von Seiten der Hochschulleitungen – unterzeichnete Hochschulpakt, mit dem 30 Millionen Euro “eingespart” werden sollen.

Ein paar Löcher für die Erwerbslosen: Bürgerarbeit als kombinierte ALG-II- und Ein-Euro-Job-Verschärfung;   Wohnkostenpauschalen als Erpressung zur “freiwilligen” Kostensenkung;   eine Sparklausur der Bundesregierung, die uns ALG-I-Kürzungen, die Streichung des Armutsgewöhnungszuschlages, nach der Anrechnung des Kindergeldes auf Hartz IV nun auch noch die Streichung des Elterngeldes, die Streichung des – ohnehin lächerlich geringen – Rentenversicherungsbeitrags und weitere Kürzungen bei den Fördermaßnahmen einbrocken möchte.

Besonders plastisch stelle ich mir die Situation eines Menschen vor, der nach einem Jahr versicherungspflichtiger Assistententätigkeit an der Uni während des einen Jahres im ALG-I-Bezug ein Kind bekommt, dabei mit weniger ALG I als bislang auskommen muss und schließlich ohne Armutsgewöhnungszuschlag und obendrein auch noch ohne Elterngeld in Hartz IV reinrauscht – das sind doch mal Perspektiven für junge akademische Eltern und ihre Kinder!

Über diese aktuellen Einschnitte bei uns Erwerbslosen lasse ich mich umfassend kommenden Mittwoch bei der regulären Jeden-Monat-Demo noch zur Genüge aus, die am dritten Mittwoch im Monat, dem 16. Juni wie gewohnt um 12 Uhr am Münsterplatz startet – darauf könnt Ihr Euch verlassen!    Ihr seid herzlich eingeladen, Euch umgekehrt uns Erwerbslosen anzuschließen!

Obwohl sich bei uns Erwerbslosen mit der Wiederholung des historischen Irrtums, den Erwerbslosen als Sündenbock hinzustellen, die größere Tragödie anbahnt – oder das revolutionärste Potenzial aufgebaut wird, je nachdem -, geht mit dem Angriff auf den Bildungssektor eine noch umfassendere Umwälzung unserer zivilisatorischen Errungenschaften einher! Jahrhunderte der Aufklärung, der akademischen Freiheit und des gesellschaftlichen Fortschritts stehen auf dem Spiel, wenn Bildung nur noch mit Lernen gleichgesetzt, die institutionelle Bildung auf Ausbildung eingeengt und der Bildungsbürger überhaupt nicht mehr zum Ziel von Bildungsbemühungen gemacht, ja geradezu bekämpft wird.

Nun sind Bildung und Ausbildung in der Regel nicht sauber zu trennen, worauf auch Carsten Jakobi auf Einladung von Linkswärts am Freitagabend um 19 Uhr im Institut für Vor- und Frühgeschichte am Schillerplatz hinweisen wird. Der inkludierte Gebildete kommt in der Marktwirtschaft kaum umhin, seine Bildung auch als Qualifikation ein- und umzusetzen. Ich stelle da wohl eher eine Ausnahme dar! 🙂

Jedenfalls wurde die Bedingung der Marktferne der Hochschul(aus)bildung endgültig zu Grabe getragen durch Studiengebühren bzw. hier in Rheinland-Pfalz mit der Einführung von Studienkonten, was einen Ausbildungsmarkt schuf und die Kenngröße des hurtigen Studienabschlusses als repressives Qualitätskriterium des ordentlichen Studierenden etablierte. Auf die Spitze getrieben wurde das Leitbild des nach einem schnellen Studienabschluss strebenden Studierenden mit dem Bachelor als de facto zertifizierter Studienabbruch, quasi nach dem Vordiplom. Der Bachelor ist aber auch differenzierter geworden. In meinem Weblog habe ich schon Ende August 2009 auf den Bachelor-Studiengang “Integrated Life Science [ILS] – Biologie, Biomathematik, Biophysik” der Universität Erlangen und auf ein damit verbundenes Problem hingewiesen: Was war bislang eine Kernanforderungen an alle Arbeitsuchenden gewesen? War nicht immer Flexibilität gefordert? Da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch den sagen wir mal 70 Prozent, die ihr planwirtschaftliches Soll erfüllen und einen Job im angestrebten Berufsfeld ergattern! Aber werden es die restlichen 30 Prozent leichter haben, einen zufrieden stellenden Arbeitsplatz zu finden, leichter als jemand mit einem zumindest einen Fachbereich einigermaßen universell abdeckenden Diplom-Abschluss? Denn die Bezeichnung “Integrated Life Sciences – Biologie, Biomathematik, Biophysik” deutet ja ausführlichst auf die hochgradige Spezialisierung hin – also das genaue Gegenteil dessen, was die deutsche Hochschullandschaft bislang auszeichnete: eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende und nach eingehender Anleitung zur wissenschaftlichen Arbeit auch auf anderen Berufsfeldern qualifizierende breite, umfassende und universale Bildung. Wie soll sich ein Bachelor dieses ILS-Studiengangs, der sich schon auf der Ebene des bisherigen Vordiploms hochgradig spezialisiert hat, wie es selbst im neuen System doch eigentlich Master-AbsolventInnen zukäme, auf einem anderen Feld zurechtfinden können? Wird denn die wissenschaftliche Methode hinreichend eingeübt? Und wenn Nein – was hat der Studiengang dann überhaupt an einer Universität verloren?

Auch bei den SchülerInnen ist Eile eingekehrt mit dem G8-Gymnasium, dessen Konzept mit Bildung in keinem wie auch immer gearteten Zusammenhang steht. Ziel des G8-Gymnasiums ist einzig die Ausräumung von vermeintlichen und vereinzelt tatsächlichen Wettbewerbsnachteilen deutscher Abiturienten im internationalen Konkurrenzkampf um die besten Studienplätze gegenüber jüngeren AbsolventInnen in anderen Ländern. Beispielhaft zitiere ich einen Satz aus einem ZEIT-Artikel von Thomas Kerstan von 2008:
“Bei interessanten Jobs, das erfährt jeder Bewerber im In- und Ausland, zählen bei der Einstellung immer die Qualifikation und die Zeit, innerhalb derer sie erlangt wurde. Da zieht der deutsche Durchschnitts-Hochschulabsolvent mit seinen 28 Jahren eben den Kürzeren gegenüber dem 24-jährigen Niederländer oder Engländer gleicher Qualifikation.”
Da Kerstan offenkundig auf den gleichen formellen Abschluss abzielt, dürfte sich eine tatsächlich “gleiche Qualifikation” erst im individuellen Vergleich ergeben. Ich bezweifle, dass ein 24-jähriger Niederländer oder Engländer dann noch eine reelle Chance gegen seinen 28-jährigen deutschen Mitbewerber mit echtem Abitur und Humboldt’schem Diplom haben dürfte! Abgesehen davon kann der Konkurrenzkampf – und erst recht einer über Ländergrenzen hinweg – nicht Ziel einer aufgeklärten Gesellschaft sein!

Sowohl beim Bachelor als auch beim G8-Gymnasium hört man oft – und im Zuge der Evaluation der Auswirkungen beider Reformen immer öfter – die Begleitforderung, Studieninhalte und Lehrpläne zuentschlacken” – leider auch aus dem Mund oder der Feder mancher SchülerInnen und Studierenden. Man muss keine höhere Mathematik bemühen, um zu erkennen, dass damit zwangsweise Bildungseinschränkungen einhergehen. Hinzu kommt beim G8-Gymnasium die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen, die sich natürlich ebenfalls nachteilig auf die Bildung auswirken muss.

Denn damit kommen wir zu den Bereichen, wo Bildung zwar nicht abgebaut, aber dort herbeiphantasiert wird, wo gar keine ist. Auf dem Bildungspodium I des OPEN OHR-Festivals hat Prof. Hamburger noch einmal betont, woraus es bei der Bildung zuallererst ankommt: auf das sich bildende Subjekt! Seine Bemerkung habe ich dankbar aufgegriffen, um festzuhalten, dass der Begriff von der “frühkindlichen Bildung” demzufolge eine neoliberale Nebelkerze darstellt, da das Subjekt gänzlich fehlt. Fraglos ist es eine gut gemachte Nebelkerze und sie wirkt auch noch nach, obwohl in neueren Dokumenten wohl dem korrigierten Begriff der “frühkindlichen Förderung” der Vorzug gegeben wird. Es bleibt festzuhalten, dass der sogenannte Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz  für unter Dreijährige (man beachte wieder das Subjekt, das seinen Rechtsanspruch ggf. geltend machen müsste) ein bestenfalls gut gemeintes Projekt der Gegenaufklärung ist wie auch G8, Ganztagsschule, Bachelor, Exzellenzinitiative und so weiter, in diesem Fall, weil verallgemeinernde Politik mit dem worst case-Szenario gemacht wird, das Euch allen wohl vor Augen stehen dürfte: die Kinder aus Familien mit Hartz-IV- und am besten auch noch Migrations-Hintergrund, denen schon der hinreichende Erwerb der deutschen Sprache von ihren Eltern aktiv verwehrt werde. Ein skandalöses Weltbild, das unmittelbar auf die sich in diesem Sinne Äußernden zurückfällt:

  • Kennen sie Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz, in dem es heißt, Pflege und Erziehung der Kinder seien “das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht”?
  • Wissen sie, dass, wenn es weiter heißt: “über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft”, damit vor allem die optimale staatliche Ausrüstung aller Eltern für ihre grundgesetzlich zugesicherten Rechte und Obliegenheiten gemeint ist und nur nötigenfalls eine ersatzweise Förderung durch den Staat?
  • Ist ihnen klar, dass die durch Eltern organisierte frühkindliche Förderung keine Bildung darstellt, sondern schlicht und ergreifend Sozialisiation und dass diese breitestmöglich angelegt werden müsste? Selbst der Kindergarten ab drei Jahren, den ich keineswegs ablehne, stellt allenfalls einen Teil der Sozialisation dar – und ganz sicher nicht den entscheidenden. Wie auch? Mit lediglich Gleichaltrigen und ein paar Respektspersonen in der Umgebung!

Der Freiheit zum selbstbestimmten Leben und den unwahrscheinlich vielfältigeren Möglichkeiten des intakten sozialisierenden Elternhauses muss immer den Vorzug gewährt werden vor der institutionellen Förderung und der Abschiebung in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, damit die Eltern ungestört ihrem Einkommenserwerb nachgehen können, was nach dem Grundgesetz gar nicht ihre erste Pflicht sein darf. Unsere Forderung hier muss sein, dass die Arbeit über eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit, etwa auf eine 25-Stunden-Woche, grundsätzlich fairer verteilt wird, um die Arbeitslosenzahlen endlich runterzubekommen, und Eltern zur Wahrung ihrer elterlichen Aufgaben, etwa mit ausgeweiteter Elternzeit, noch darüber hinaus von ihren sekundären Aufgaben entlastet werden.

Zusammenfassend möchte ich hier keine Einzelforderungen des Mainzer oder bundesweiten Bildungsstreiks paraphrasieren, die man online jederzeit nachlesen kann, und auch keine spezifischen Erwerbslosenforderungen einbringen.

Ich möchte vielmehr darauf hinweisen,

  • dass wir in Deutschland rund doppelt so viele Arbeitslose haben, wie die regierungsseitig geschönten, besser gesagt: gefälschten Statistiken hergeben.
  • dass die Arbeitslosigkeit gemäß den schon bisher dafür sorgenden Bedingungen weiter ansteigen und sich auch – und vermehrt – aus den HochschulabsolventInnen rekrutieren wird.
  • und dass die Arbeitslosen der Zukunft allenfalls gebildetere Arbeitslose sein werden, aber nicht weniger… was allerdings auch nur eine eher euphemistisch-anekdotische Einschätzung ist, denn auf der anderen Seite stehen die Jugendlichen, die ohne jede Ausbildung völlig perspektivlos sich selbst überlassen bleiben sollen…

An die Parteien wende ich mich mit der Forderung, ihr “Projekt der Gegenaufklärung“, mit dem sie gerade als Zerstörer der Zivilisation in die Geschichte einzugehen drohen, zu überdenken.

Bildung darf nicht zur Eintrittskarte in die Gesellschaft werden und limitierte Bildung darf nicht zur Exklusion führen!

Bildung muss Bildung bleiben und darf nicht auf Lernen oder Wissen reduziert werden!

Ja, Bildung ist Selbstzweck! – Bildung ist trotzdem geil!

Macht Schluss mit der Klassengesellschaft!

Wissensgesellschaft heißt Wissenskommunismus – da beißt die Maus keinen Faden ab!

Bildung für alle – und zwar umsonst!


Bildet Euch!

Manfred Bartl

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