Katja Kippings Positionspapier zu sog. Rechtsvereinfachungen im SGB II

Katja Kipping hat am 27.11.2014 ein zum Aktionstag gegen Rechtsvereinfachungen im SGB II und gegen die in Mainz tagende Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) passendes “Positionspapier zu den sogenannten Rechtsvereinfachungen im SGB II. Eine Bewertung der Ergebnisse der ‘Bund-Länder-AG zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB  II’ aus meiner Sicht” (PDF) veröffentlicht. Wir geben das Positionspapier hier in der am 29.11.2014 um 10:06 Uhr abgerufenen Fassung wieder. Maßgeblich ist natürlich ihr Original-Positionspapier!

Katja Kipping

November 2014

Positionspapier zu den sogenannten Rechtsvereinfachungen im SGB II

(Bund-Länder-AG zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II)

Vorbemerkung

Gegenwärtig liegt uns noch nicht der Referentenentwurf des Gesetzes, sondern nur die zwischen Bund und Ländern ausgehandelte Konsensliste vor. Deren Text ist an mehreren Stellen offen für verschiedene Interpretationen. Ursprünglich war vom BMAS geplant, dass der Referentenentwurf am 5.11.2014 im Kabinett und am 19.12.2014 im Bundesrat in 1. Lesung behandelt wird. Von diesem Zeitplan musste Andrea Nahles wohl Abstand nehmen, da die CSU Einspruch gegen die Abschaffung der verschärften U25-Sanktionen eingelegt hat.

1. Grundsätzliche Kritik an der Zielsetzung der Arbeitsgruppe

Die grundsätzlichen Probleme der Hartz-IV-Gesetzgebung liegen nicht auf verwaltungstechnischer Ebene.

Hartz IV ist von Grund auf falsch konstruiert und muss abgeschafft werden (siehe dazu den Antrag der Fraktion DIE LINKE “Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV”).

2. Kritik der Arbeitsweise der Bund-Länder-AG – intransparent, undemokratisch

Die Arbeitsweise der zuständigen Arbeitsgruppe war von Intransparenz geprägt. Zwischenergebnisse und konkrete Arbeitsweise wurden nicht veröffentlicht, sondern nur durch Whistleblower bekannt. Sowohl außerparlamentarische Kräfte wie Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände (außer der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge) und Erwerbsloseninitiativen als auch Bundestagsabgeordnete wurden nicht in die Arbeit der Gruppe einbezogen.

3. Einschätzung der Konsensvorschläge der Arbeitsgruppe

a) Zumindest teilweise positive Vorschläge
Wir wollen nicht verhehlen, dass einige Vorschläge zumindest teilweise positiv zu bewerten sind. Dazu gehören:

– Die Abschaffung des Sanktionssonderrechts für Menschen unter 25 Jahren und die Abschaffung der Sanktion der Kosten der Unterkunft und Heizung (Bayern stimmte dem Punkt jedoch nicht zu). Der jahrelange Kampf der Erwerbslosenbewegung und der LINKEN gegen die Sanktionen hat zumindest teilweise zum Erfolg geführt. Wobei ganz klar ist: Alle Sanktionen und Leistungseinschränkungen gehören unverzüglich abgeschafft.

– Positiv zu bewerten ist der längere Regelbewilligungszeitraum (jetzt immerhin 12 Monate) der Leistungen.

– Die grundsätzliche Anspruchsberechtigung auf ergänzendes Arbeitslosengeld II für Auszubildende in Berufsausbildung und berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen sowie von Schülerinnen und Schüler in schulischen Ausbildungen. Aber auch hier ist zu kritisieren: Erstens fehlen die Studierenden, zweitens gilt aber grundsätzlich: Vorrangige Leistungssysteme und Einkommen sind so auszugestalten, dass erst gar nicht auf aufstockendes Hartz IV zurückgegriffen werden muss.
b) Vorschläge, die zur Verschärfung des Sonderrechts Hartz IV führen
Die unter a genannten Bewertungen führen keineswegs zu einer positiven Gesamtbewertung der Vorschläge für die Rechtsvereinfachung. Im Gegenteil: Viele Vorschläge führen zur Rechtsverschärfung im Sonderrecht Hartz IV. Zu nennen sind z. B.:

– Bei einem Umzug sollen künftig für alle nur noch die Kosten der Unterkunft und Heizung finanziert werden, die vor dem Umzug als “angemessen” galten. Damit wird eine mögliche Verbesserung der Wohnsituation von Hartz-IV-Betroffenen durch Umzug ausgeschlossen und das Freizügigkeitsrecht ausgehebelt.

– Das Problem der Absicherung von Kindern mit getrennt lebenden Eltern im Leistungsbezug wird auf die Eltern verschoben. Künftig soll nur noch das Elternteil mit Kindeshauptwohnsitz den Bedarf für das Kind ausgezahlt bekommen, und Bedarfe für den Aufenthalt des Kindes beim Umgangsberechtigten diesem abtreten. Für den Konfliktfall soll dem Umgangsberechtigten ein Auszahlungsanspruch zuerkannt werden.

Konsequent und sachlich korrekt wäre aber, den vollen Regelbedarf den Sorgeberechtigten zukommen zu lassen, denn viele Güter des Grundbedarfs (Wohnung, Nahrung, Kleidung usw.) lassen sich nicht in Tagen abrechnen, müssen dauerhaft vorgehalten werden. Bei Aufenthalten der Kinder bei Umgangsberechtigten (temporäre Bedarfsgemeinschaft) sollte dann diesem ein Mehrbedarf für den Kinderbedarf zugebilligt werden.

– Folgt man dem Wortlaut des Gesetzes kann ein/e Leistungsbeziehende/r, der Erwerbseinkommen und Einkommen aus ehrenamtlicher Tätigkeit hat, den pauschalen Einkommensfreibetrag von 200 Euro vom Einkommen absetzen. Zukünftig soll der Freibetrag aber nach der Einkommensart bemessen werden, bei der das Einkommen höher ausfällt. Das führt zu Problemen bei einer Kombination von Erwerbseinkommen und Einkommen aus ehrenamtlicher Tätigkeit, so soll zukünftig z. B. bei einem Erwerbseinkommensfreibetrag von 100 Euro im Falle eines zusätzlichen Einkommens aus ehrenamtlicher Tätigkeit von 105 Euro der Gesamtfreibetrag nunmehr nur noch 105 Euro betragen statt bisher 200 Euro.

– Die rückwirkende Korrektur rechtswidriger Verwaltungsakte zu den Leistungen wird erschwert. Bisher konnte die rückwirkende Korrektur nach einer höchstrichterlichen Klarstellung nur dann verwehrt werden, wenn es eine bundeseinheitliche rechtswidrige Verwaltungspraxis aller Leistungsträger (BA, kommunaler Träger, zugelassener kommunaler Träger) gegeben hat. Künftig soll es allein auf die Einheitlichkeit der Verwaltungspraxis des zuständigen Trägers (BA, kommunaler Träger oder zugelassener kommunaler Träger) ankommen.

– Erhöhung der Frequenz der Datenabgleiche bezüglich Beschäftigungszeiten auf eine Frequenz von einmal monatlich, also zwölfmal jährlich statt bisher viermal jährlich.
Dieser Vorschlag bedient die Ideologie des Leistungsmissbrauchs und führt nicht zur Vereinfachung sondern zur Ausweitung des Verwaltungshandelns (Verdreifachung).

– Der Logik des unterstellten Leistungsmissbrauchs folgt auch der Vorschlag den Katalog des “sozialwidrigen Verhaltens”, der Ersatzansprüche (Regressforderung) gegenüber den Leistungsbeziehenden bewirkt, zu erweitern. Das heißt, dass das Rechtskonstrukt der “Sozialwidrigkeit” verschärft werden soll: War bisher von “Herbeiführen der Hilfebedürftigkeit” als sozialwidriges Verhalten die Rede, sollen nun auch die “Erhöhung”, das “aufrecht Erhalten” und “nicht erfolgte Verringerung” der Hilfebedürftigkeit zu Ersatzansprüchen der Ämter gegenüber Betroffenen führen. Erstens wird aber durch die Ersatzansprüche eine wirtschaftliche Schwächung der betroffenen Personen bewirkt. Zweitens werden neue unbestimmte und unscharfe Rechtsbegriffe eingeführt, die zu einer erheblichen Schwächung der Rechtsposition der Betroffenen führen.

Vergleicht man die tlw. positiven Vorschläge mit den Vorschlägen, die eindeutig die Position und Situation der Betroffenen verschlechtern, muss festgestellt werden: Trotz einiger positiver Vorschläge handelt es sich bei dem Vorschlagspaket weniger um eine Rechtsvereinfachung, sondern mehr um eine Rechtsverschärfung bei Hartz IV!

4. Vorschläge, die in der Arbeitsgruppe keinen Konsens fanden

In den ersten Meldungen, die aus der Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe durchsickerten, waren noch weit mehr Vorschläge für Verschlechterungen zu finden, so z. B., dass Soloselbständige bei “unrentabler Selbständigkeit” nur noch 24 Monate Leistungsanspruch haben sollen (Vorschlag aus Sachsen-Anhalt), verstärkte Datenabgleiche zur Aufdeckung von E-commerce (u. a. ebay-Einkommen) im Internet (Bundesagentur für Arbeit), Erhebung einer Gebühr für Klagen und Widersprüche durch Betroffene (Sachsen, Rheinland-Pfalz), Streichung des Mehrbedarfszuschlags für nicht erwerbstätige Alleinerziehende “um Fehlanreize zu vermindern” (Bundesagentur für Arbeit).
Dass diese und weitere Vorschläge, die die Situation und Rechtsposition der Betroffenen eindeutig verschlechtert hätten, nicht in die Liste der Konsensvorschläge aufgenommen worden sind, hat z. T. auch damit zu tun, dass sie bekannt gemacht und öffentlich skandalisiert worden sind. Dies ist auch ein Erfolg unseres Agierens. Auch hier zeigt sich: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

Zusammenfassung

Erstens sind Rechts- und Verwaltungsvereinfachungen nicht dazu geeignet grundsätzlich das grundrechtswidrige Sonderrecht Hartz IV, das Armut, Ausgrenzung und Entrechtung für Millionen Menschen in Deutschland bedeutet, zu beseitigen.

Zweitens sollten bei Debatten u. a. im Bundestag und Bundesrat neben der grundsätzlichen Kritik an diesem Paket auch die besonders verschärfenden Regelungen angegriffen werden.

Drittens ist der aktive Widerstand gegen Hartz IV weiterhin ein zentrales Feld linker und LINKER Politik und vieler sozialer Bewegungen. Hartz IV wird nicht durch sogenannte Rechtsvereinfachung gut, sondern muss durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzt werden: DIE LINKE bringt dazu einen Antrag in den Deutschen Bundestag mit folgenden Eckpunkten ein:

– Erwerbslosigkeit, Dumping- und Niedriglöhnen sowie der Ausweitung von prekärer Beschäftigung sind entgegenzutreten. Stattdessen wird Existenz sichernde und sozial abgesicherte gute Erwerbsarbeit gefördert.

– Mit einer individuellen, sanktionsfreien Mindestsicherung in Höhe von 1.050 Euro netto muss die Verarmung und Entwürdigung von allen Erwerbslosen und Menschen mit geringem Einkommen, die in der Bundesrepublik leben, beendet werden. Sofort müssen alle Sanktionen abgeschafft und ein Regelsatz von 500 Euro eingeführt werden.

– Es ist eine Kindergrundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen einzuführen, die die Existenz und Teilhabe der Kinder und Jugendlichen sichert. Sie ist am tatsächlichen verfassungsrechtlichen Existenzminimum der Kinder zu orientieren. Dieses liegt derzeit bei 536 Euro. Die Kindergrundsicherung fasst als eigenständige Leistung bisherige kindbezogene Transferleistungen wie Kindergeld, Regelleistungen für Kinder und Jugendliche und Kinderzuschlag zusammen.

– Die mit der Einführung von Hartz IV betriebene Entrechtung der Grundsicherungsbeziehenden ist zu stoppen und rückgängig zu machen. Die Rechtsposition der Leistungsberechtigten ist grundsätzlich durch verschiedene Maßnahmen zu stärken.

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